Ort der Angst (German Edition)
sich an dem scharfkantigen Gestein verletzte. Nicht einen Gedanken an ihre blutenden Hände verschwendend, tauchte sie in den steinernen Schlund ein, kam auf der anderen Seite wieder heraus und fand nichts als eine schwarze Leere vor. Die vielen Schmutzpartikel im Wasser dieses Höhlenabschnitts machten es Maria unmöglich, die Dimensionen der Umgebung abzuschätzen. Die steil abfallende Felswand in ihrem Rücken bildete den einzigen Orientierungspunkt.
Bizarre Kalksteingebilde bedeckten in wulstartigen Auswüchsen die gesamte Oberfläche des steinernen Walls und weckten in Maria befremdliche Assoziationen. Besonders verstörend empfand Maria an diesem Naturschauspiel, dass sie bei seinem Anblick an einen erstarrten Wasserfall denken musste, der eine Flut zerfließender Fratzen und Fantasiewesen mit sich in die Tiefe riss.
Maria versuchte, das bange Gefühl in ihrer Brust niederzukämpfen und wandte den Blick ab. Alles, was sie ansonsten im Schein der Taucherlampe entdecken konnte, war trübes Wasser. Vielleicht bessert sich die Sicht, wenn ich weiterschwimme. Widerstrebend stieß sie sich mit ihren Schwimmflossen vom Gestein ab und schwebte über das bodenlose Nichts hinweg.
Soweit sie sich auch vorwärts wagte, sie fand nicht das Geringste; keinen Hinweis auf ihren Partner, keine weiteren Felsen – nichts. Maria stoppte und verharrte senkrecht mit den Beinen rudernd auf der Stelle. All ihren Mut zusammennehmend schaltete sie das Licht aus. Sollte Paul sich irgendwo dort draußen befinden, konnte sie den Schein seiner Lampe vielleicht auf diese Weise erkennen. Die absolute Dunkelheit, die Maria sofort umfing, löste eine überwältigende Welle der Furcht in ihr aus. Fahrig suchte sie nach dem Schalter der Lampe und ließ erleichtert die Schultern sacken, als das Licht wieder anging. Trotzdem fiel es ihr zunehmend schwerer, regelmäßig zu atmen.
Als sie die Sicherungsleine weiter abrollen wollte, ging ein Ruck durch ihren Arm; die Spule war zu Ende. Maria trug keinen Ersatz bei sich. Was sollte sie jetzt tun? Widerwillig gestand sie sich ein, dass sie jetzt nur noch sich selbst retten konnte.
Paul ist verloren! Ich muss umkehren! Die Trauer um ihren Partner raubte ihr beinahe den Verstand. Krampfhaft hielt sie die Spule mit ihren wunden Fingern umklammert und begann, der weißen Leine zurück zu folgen. Mit ihrer Hilfe konnte Maria es schaffen, durch den Höhlenkomplex und damit zurück an die Oberfläche zu gelangen.
Aber Angst, Kummer und Zweifel fraßen sich wie eine Meute hungriger Scheusale weiter durch ihr Bewusstsein. Maria hörte das Blut wie einen tosenden Sturzbach durch ihren Körper rauschen. Schneller und schneller von einem wild zuckenden Herzen angetrieben, das direkt auf ihr Trommelfell zu hämmern schien.
Die Sicht wurde immer schlechter. Maria kam nur im Schneckentempo voran. Wenn sie ihren Arm ausstreckte, um nach der Sicherungsleine zu tasten, konnte sie nicht einmal die eigene Hand erkennen. Plötzlich griff sie ins Leere. Irritiert zog sie an der Schnur. Aus der Dunkelheit kam ihr das ausgefranste Ende des durchtrennten Seils entgegen. Nein! Nein, das ist nicht möglich!
Nun siegte die Panik endgültig und ließ Maria planlos durch das Wasser rudern. Fieberhaft huschte ihr Blick umher. In dem unsteten Schein der Lampe glaubte sie, körperhafte Schatten zu erkennen. Etwas berührte ihr Bein. Von Grausen erfüllt trat und hieb sie mit aller Kraft so lange um sich, bis ihre Muskeln verkrampften. Maria konnte sich kaum noch bewegen. Ihr ganzes Empfinden bestand nur noch aus Schmerz und Angst. Der Drang zu schreien wurde übermächtig. Sie bekam kaum noch Luft. In dem Glauben, jeden Moment ersticken zu müssen, suchte sie nach der Druckluftanzeige, zerrte an ihrem Atemgerät herum und verhedderte sich mit der Schlaufe der Taucherlampe. Bei dem Versuch, die Hand wieder freizubekommen, entglitt ihr die Lampe. Zu spät versuchte sie, danach zu greifen und sah wie gelähmt ihre Lichtquelle in die Tiefe sinken. Das Leuchten verschwand so abrupt, als sei es von der Umgebung verschluckt worden.
Maria blieb in absoluter Finsternis zurück und verlor jegliche Hoffnung.
Aber da war etwas. Eine Strömung im Wasser? Nein, eine Berührung an ihrer Hand. Sanft wie wogende Algenstränge. Schaudernd riss Maria die Arme hoch und presste sie dicht an sich. Etwas schlang sich um ihre Füße. Vergebens versuchte sie, noch einmal gegen ihr Schicksal anzukämpfen und sich der grausigen Umklammerung zu
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