Ort des Grauens
ihrer Verbindung mit Verbinas Wahrnehmungsvermögen spürte sie den heißen Strom ihres eigenen Atems auf der Haut ihrer Schwester.
Sie gaben unverständliche Laute von sich und klammerten sich aneinander. Ihr hektisches Atmen legte sich erst, als der Falke den letzten roten Streifen von nahrhaftem Fleisch von der Maus gerissen und sich mit wildem Flügelschlagen wieder in die Lüfte erhoben hatte.
Unten lag das Anwesen der Pollards: die Kirschmyrtenhecke; das verwitterte Giebelhaus mit dem Schieferdach; der zwanzig Jahre alte Buick, der ihrer Mutter gehört hatte und den Candy manchmal fuhr; ein schmales und ungepflegtes Blumenbeet, das über die ganze Länge der verfallenen rückwärtigen Veranda reichte; Primelnbüschel mit roten, gelben und purpurfarbenen Blüten wuchsen darauf. Violet sah auch Candy da unten, an der nordöstlichen Ecke des ausgedehnten Anwesens.
Sie hielt ihre Schwester immer noch fest umschlungen, bedeckte Verbinas Hals, ihre Wangen und Schläfen mit einem Schauer zarter Küsse und wies den Falken gleichzeitig an, über ihrem Bruder zu kreisen. Durch den Vogel beobachtete sie ihn, wie er da mit hängendem Kopf am Grab ihrer Mutter stand und um sie trauerte, so wie er jeden Tag um sie getrauert hatte, seit ihrem Tod vor vielen Jahren.
Violet trauerte nicht.
Ihre Mutter war ihr genauso fremd gewesen wie jeder andere Mensch auf dieser Welt, und sie hatte beim Hinscheiden der Frau nichts Besonderes gefühlt. Tatsächlich fühlte sie sich Candy, da er ebenfalls über außergewöhnliche Gaben verfügte, noch eher verbunden als ihrer Mutter, was freilich nicht viel zu bedeuten hatte, denn sie kannte ihn nicht wirklich, und sie machte sich auch nicht so sehr viel aus ihm. Wie konnte sie jemandem nahestehen, wenn sie nicht in dessen Geist, dessen Gedanken eindringen und mit ihm - durch ihn - leben konnte?
Diese unglaubliche Intimität war es, die sie mit Verbina zusammenschweißte, und sie kennzeichnete auch die Unzahl von Beziehungen, die sie mit dem Federvieh und der Fauna unterhielt, die die Natur bevölkerten.
Sie wußte einfach nicht, wie sie mit jemandem umgehen sollte, wenn es diese intensive, diese innerste Verbindung nicht gab, und wenn sie nicht liebte, konnte sie auch nicht trauern.
Weit unter dem kreisenden Falken ließ sich Candy neben dem Grab auf die Knie fallen.
27
Montagnachmittag. Thomas saß an seinem Arbeitstisch. Er fertigte ein Bildergedicht an.
Derek half. Oder er glaubte zu helfen. Er sortierte einen Kasten mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Fotos. Er wählte Bilder aus und gab sie Thomas. Wenn das Bild richtig war, schnitt Thomas es zurecht und klebte es ein. Meist war es jedoch nicht richtig, also legte er es beiseite und bat um ein anderes und noch ein anderes, bis Derek ihm eines gab, das er benutzen konnte.
Er sagte Derek nicht die schreckliche Wahrheit. Die schreckliche Wahrheit war, daß er das Gedicht allein erschaffen wollte. Doch er konnte Dereks Gefühle nicht verletzen. Derek war verletzt genug. Zu sehr. Dumm zu sein, tat wirklich weh, und Derek war dümmer als Thomas. Derek sah auch dümmer aus, was noch mehr weh tat. Seine Stirn war wulstiger als die von Thomas. Seine Nase war flacher, und sein Kopf erinnerte an einen Kürbis. Das war die schreckliche Wahrheit.
Später, müde vom Kleben des Bildergedichts, gingen Thomas und Derek in den Aufenthaltsraum, und da passierte es dann. Derek wurde weh getan. Ihm wurde so weh getan,
daß er weinte. Ein Mädchen tat es. Mary. Im Aufenthaltsraum.
Einige Patienten spielten in einer Ecke Murmeln. Einige sahen fern. Thomas und Derek saßen auf einer Couch in der Nähe eines der Fenster. Um freundlich, gesellig zu sein, wenn irgendjemand vorbeiging. Die Schwestern und Pfleger wollten immer, daß die Leute im Heim gesellig waren. Wenn gerade niemand da war, wegen dem sie hätten gesellig sein müssen, beobachteten Thomas und Derek die Kolibris, auch Summvögel genannt, in dem Futterhäuschen, das vor dem Fenster hing. Die Summvögel summten gar nicht richtig, sondern sie schwirrten herum, und es bereitete viel Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Mary, die neu im Heim war, schw irrte nicht herum, und es bereitete auch keinen Spaß, ihr zuzusehen, doch sie summte viel. Nein, sie surrte. Surr, surr, surr - die ganze Zeit.
Mary wußte etwas von Ei-Kuhs. Sie sagte, sie seien wirklich wichtig, diese Ei-Kuhs. Und vielleicht war es so, obwohl Thomas niemals von ihnen gehört hatte und nicht verstand, was sie waren.
Weitere Kostenlose Bücher