Ort des Grauens
Augen ab. »Ist es das? Ist es manchmal auch schwer für Sie?«
»Manchmal. Aber ich glaube, daß es einen Gott gibt, Thomas, und daß er uns aus irgendeinem Grund hierhergeschickt hat, und daß jede Härte, mit der wir fertigwerden müssen, nur ein Test ist, und daß es uns besser macht, wenn wir sie ertragen haben.«
Er hob den Kopf, um sie anzusehen. So schöne Augen. Gute Augen. Es waren Augen, die einen liebten. Wie Julies Augen. Oder Bobbys.
»Gott hat mich dumm geschaffen, um mich zu testen?« fragte Thomas.
»Du bist nicht dumm, Thomas. In vielerlei Beziehung nicht. Ich mag es nicht, wenn du dich selbst dumm nennst. Du bist nicht so klug wie manche andere Menschen, aber das ist nicht dein Fehler. Du bist anders, das ist alles. Anders zu sein, das ist deine Härte, und du wirst gut damit fertig.«
»Werde ich das?«
»Wunderbar. Sieh dich nur an. Du bist nicht verbittert. Du schmollst nicht. Du reichst den Menschen die Hand.« »Ich bin gesellig, freundlich.« Sie lächelte, zog ein Tuch aus der Kleenex-Schachtel auf dem Arbeitstisch und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. »Von all den klugen Leuten auf der Welt wird keiner mit seiner Härte besser fertig als du, Thomas, und die meisten nicht mal so gut wie du.«
Er wußte, sie meinte, was sie sagte, und ihre Worte stimmten ihn glücklich, auch wenn er nicht so recht glauben konnte, daß das Leben für kluge Leute jemals hart sein konnte.
Sie blieb noch eine Weile. Vergewisserte sich, daß er okay war. Dann ging sie.
Derek schnarchte immer noch.
Thomas saß am Arbeitstisch. Er versuchte ein weiteres Gedicht.
Nach einiger Zeit ging er ans Fenster. Es regnete jetzt. Der Regen kullerte die Scheibe hinunter. Der Nachmittag war fast vorbei. Zum Regen würde obendrein noch die Nacht kommen.
Er legte die Hände an die Scheibe. Er fühlte in den Regen hinaus, in den grauen Tag, in die Leere der Nacht, die langsam über die Erde hereinbrach.
Das Böse Ding war immer noch da draußen. Er konnte es fühlen. Ein Mann, aber doch kein Mann. Etwas, das mehr war als ein Mann. Sehr schlimm, sehr böse. Scheußlichhäßlich. Er spürte es seit Tagen, aber seit der Warnung in der letzten Woche hatte er keine weitere an Bobby tevaut, weil das Böse Ding nicht nähergerückt war. Es war weit weg, im Augenblick war Julie sicher, und wenn er zu viele Warnungen an Bobby tevaute, würde Bobby aufhören, sie zu beachten, und wenn das Böse Ding dann schließlich kam, würde Bobby nicht mehr daran glauben, und dann würde es Julie kriegen können, weil Bobby ihm keine Beachtung mehr schenkte.
Was Thomas am meisten fürchtete, war, daß das Böse Ding Julie zu dem Ort des Grauens bringen würde.
Ihre Mutter war zu dem Ort des Grauens gegangen, als Thomas zwei Jahre alt war, so daß er sie nicht mal richtig gekannt hatte. Dann, später, war ihr Vater zu dem Ort des Grauens gegangen und hatte Thomas allein mit Julie zurückgelassen.
Er meinte nicht die Hölle. Er wußte Bescheid über Himmel und Hölle. Der Himmel gehörte Gott. Der Teufel war der Besitzer der Hölle. Wenn es einen Himmel gab, dann war er sicher, daß seine Mami und sein Dad dorthin gegangen waren. Jeder wollte in den Himmel hinaufgehen, wenn er konnte. Dort war es besser. In der Hölle war das Aufsichtspersonal nicht nett.
Für Thomas aber war der Ort des Grauens nicht einfach die Hölle. Es war der Tod. Die Hölle war ein Ort des Grauens, der Tod jedoch war der Ort des Grauens. Tod, das war ein Wort, von dem man sich kein Bild machen konnte. Tod bedeutete, daß alles aufhörte, weg war, daß alle Zeit, die man hatte, abgelaufen war, aus, vorbei, kaputt. Wie sollte man sich das vorstellen, wie ein Bild davon gewinnen? Nichts, von dem man sich kein Bild vorstellen konnte, war wirklich. Er konnte den Tod nicht sehen, empfing kein Bild davon in seinem Kopf, nicht, wenn er so darüber nachdachte, wie andere Menschen darüber nachzudenken schienen.
Er war einfach zu dumm, deshalb mußte er ihn sich in seinem Kopf als einen Ort vorstellen. Sie sagten, der Tod käme, um einen zu holen, und er war eines Nachts erschienen, um seinen Vater zu holen, sein Herz hatte ihn »attackiert«, doch wenn er kam, um einen zu holen, dann mußte er einen irgendwohin bringen, an irgendeinen Ort.
Und das war der Ort des Grauens.
Das war der Ort, zu dem man gebracht wurde, und den man nie wieder verlassen, von dem man nie wieder zurückkehren durfte. Thomas wußte nicht, was dort mit den Menschen passierte.
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