Ort des Grauens
den der Katzen natürlich. Sie roch die Katzen nicht nur, die sich auf dem Bett und dem Fußboden davor niedergelassen hatten, die schliefen oder sich träge leckten, sie lebte auch in jeder von ihnen. Während ein Teil ihres Bewußtseins in ihrem eigenen hellen Fleisch blieb und ein Teil mit dem gefiederten Räuber hoch oben in der Luft dahinschwebte, wohnten andere Aspekte ihres Seins in jeder einzelnen der Katzen. Fünfundzwanzig waren es jetzt, da die arme Samantha dahingegangen war.
Violet erlebte die Welt gleichzeitig durch ihre eigenen Sinne, durch die des Falken und durch die fünfzig Augen und fünfundzwanzig Nasen, die fünfzig Ohren und hundert Pfoten und durch die fünfundzwanzig Zungen des Rudels.
Ihren eigenen Körpergeruch konnte sie nicht nur durch ihre eigene Nase wahrnehmen, sondern auch durch die Nasen all der Katzen: den schwachen Überrest der Seife vom Bad gestern abend; der angenehme, ihr noch immer anhängende Duft des Shampoos mit dem Zitronen-Aroma; den schalen Mundgeruch, den man beim Aufwachen immer hatte, verstärkt durch den üblen, deftigen Dunst der rohen Eier und Zwiebeln und der rohen Leber, die sie morgens bei Sonnenaufgang vor dem Zubettgehen gegessen hatte.
Jedes einzelne Mitglied der Meute hatte einen besseren Geruchssinn als sie, und jedes einzelne nahm ihren Duft anders wahr als sie. Sie fanden ihren natürlichen Geruch eigenartig, aber beruhigend, faszinierend und doch vertraut.
Sie konnte sich selbst auch durch die Sinne ihrer Schwester sehen, hören und fühlen, denn mit Verbina war sie jederzeit unentwirrbar verbunden. Mit bloßer Willenskraft konnte sie in die Empfindungen anderer Lebensformen eindringen oder sich aus ihnen lösen, Verbina aber war der einzige andere Mensch, mit dem sie die Existenz teilen konnte. Es war ein permanentes Band, das sie seit ihrer Geburt unauflöslich aneinander fesselte. Violet konnte sich aus dem Falken oder den Katzen lösen wann immer sie wollte, von ihrer Zwillingsschwester jedoch konnte sie sich niemals lösen.
Außerdem war es ihr möglich, die Empfindungen von Tieren zu kontrollieren und sie sich anzueignen, aber sie war nicht in der Lage, ihre Schwester zu kontrollieren. Ihre Verbindung entsprach nicht der eines Puppenspielers mit seiner Marionette, sondern sie war etwas Besonderes und Geheiligtes.
Ihr ganzes Leben hatte Violet an einem Zusammenfluß vieler verschiedener Gefühls-und Empfindungsströme verbracht, in schäumenden Fluten von Geräuschen, Düften, Bildern, Geschmäckern und Berührungen gebadet, die Welt nicht nur durch ihre eigenen Sinne, sondern zusätzlich durch die zahlloser Stellvertreter erlebt.
Teile ihrer Kindheit war sie kontaktunfähig gewesen, vom Input sinnlicher Wahrnehmungen so überwältigt, daß sie sie nicht hatte ordnen können. Sie hatte sich nach innen gekehrt, hatte in der geheimen Welt, reichhaltiger, vielfältiger und profunder Erfahrungen gelebt, bis sie gelernt hatte, die hereinstürzende Flut zu kanalisieren, sie auszunutzen, statt sich von ihr überrollen zu lassen. Erst danach hatte sie sich entschlossen, mit den Menschen zu kommunizieren, die um sie herum waren, hatte sich entschieden, ihren Autismus abzulegen.
Sie war schon sechs, als sie endlich sprechen gelernt hatte. Aus den tiefen, schnellen Fluten der außergewöhnlichen Empfindungen hatte sie sich freilich nie gelöst, um sich auf diese verhältnismäßig trockene Bank zu begeben, auf der andere Menschen existierten, doch zumindest hatte sie gelernt, bis zu einem gewissen Grad mit ihrer Mutter, Candy und anderen zu interagieren.
Verbina war niemals auch nur halb so gut zurechtgekommen wie Violet und würde es wohl auch niemals. Das war augenscheinlich. Nachdem sie ein Leben gewählt hatte, das fast exklusiv von Empfindungen bestimmt war, zeigte sie wenig -wenn überhaupt - Interesse daran, auch ihren Intellekt zu üben und zu entwickeln. Sie hatte niemals sprechen gelernt, hatte an anderen - abgesehen von ihrer Schwester kaum Interesse und warf sich mit freudiger Hingabe in den Ozean sinnlicher Reize, der um sie herum wogte.
Als Eichhörnchen herumzuhüpfen, wie ein Falke oder eine Möwe zu fliegen, wie eine Katze läufig zu sein, wie ein Kojote zu springen und zu töten, durch die Schnauze eines Waschbären oder einer Feldmaus kühles Flußwasser zu trinken, in die Sinne einer läufigen Hündin einzudringen, die von Rüden besprungen wird, gleichzeitig die Todesangst des Hasen zu teilen, der in die Enge getrieben wird,
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