Ort des Grauens
hatte.
Nachdem sie Derek zum Einschlafen gebracht hatten, setzte sich eine der Helferinnen neben Thomas an den Arbeitstisch. Es war Cathy. Thomas mochte Cathy. Sie war älter als Julie, aber nicht so alt, daß sie irgend jemandes Mutter hätte sein können. Sie war hübsch. Nicht so hübsch wie Julie, aber hübsch. Sie hatte eine nette Stimme und Augen, bei denen man keine Angst haben mußte, wenn man hineinsah. Sie nahm eine von Thomas Händen in ihre beiden und fragte ihn, ob er okay sei. Er sagte, das sei er, doch das war er nicht wirklich, und sie wußte es. Sie unterhielten sich ein Weilchen. Das half. Freundlich sein, gesellig sein.
Sie erzählte ihm von Mary, damit er sie besser verstehen konnte. Und auch das half. »Sie ist so enttäuscht, Thomas. Sie war eine Weile da draußen in der Welt, in einem Rehabilitationszentrum, einer Zwischenstation, und sie hatte sogar einen Halbtagsjob, verdiente ein wenig eigenes Geld. Sie hat sich viel Mühe gegeben, doch es hat nicht gereicht. Sie hatte zu viele Probleme, deshalb mußte sie wieder in eine Anstalt eingewiesen werden. Ich glaube, sie bereut, was sie Derek angetan hat. Sie ist einfach so enttäuscht, daß sie jemanden brauchte, dem sie sich überlegen fühlen konnte.«
»Ich bin ... war ... war auch einmal da draußen in der Welt«, sagte Thomas.
»Ich weiß das, Schatz.«
»Mit meinem Dad. Dann mit meiner Schwester. Und Bobby.«
»Hat es dir da draußen gefallen?«
»Manches da ... hat mir Angst eingejagt. Doch als ich mit Julie und Bobby zusammen war ... Diesen Teil mochte ich.«
Derek, auf seinem Bett, schnarchte jetzt.
Der Nachmittag war schon zur Hälfte vorbei. Der Himmel begann häßlich-stürmisch auszusehen. Im Raum sammelten sich überall Schatten. Nur die Tischlampe brannte. Cathys Gesicht sah hübsch aus im Lampenlicht. Ihre Haut sah aus wie pfirsichfarbener Satin. Er wußte, wie Satin aussah. Julie hatte einmal ein Satinkleid gehabt.
Ein Weilchen schwiegen er und Cathy. »Manchmal ist es hart«, sagte er dann. Sie legte eine Hand auf seinen Kopf. Streichelte sein Haar. »Ja, ich weiß, Thomas. Ich weiß.«
Sie war so nett. Er wußte nicht, warum er anfing zu weinen, da sie doch so nett war, aber er tat's. Möglicherweise lag es ja daran, daß sie so nett war.
Cathy rückte ihren Stuhl näher an seinen. Er lehnte sich an sie. Sie nahm ihn in die Arme. Er weinte und weinte. Es war nicht das harte, schreckliche Schluchzen, das er von Derek kannte. Es war weich. Aber er konnte nicht aufhören. Und er wollte. Er versuchte immer, nicht zu weinen, weil er sich dumm fühlte, wenn er weinte, und er haßte es, sich dumm zu fühlen.
Unter Tränen sagte er: »Ich hasse es, mich dumm zu fühlen.«
»Du bist nicht dumm, Schatz.«
»Doch, das bin ich. Ich hasse es. Aber ich kann nichts anderes sein. Ich versuche nicht darüber nachzudenken, daß ich dumm bin, aber man kann nicht nicht darüber nachdenken, wenn es das ist, was man ist, und wenn andere Leute es nicht sind, und wenn sie jeden Tag in die Welt hinausgehen, und wenn sie leben. Und wenn du nicht in die Welt hinausgehst und es nicht einmal willst, aber ... O doch, du willst es, selbst wenn du sagst, daß du es nicht willst.«
Das, was er da gesagt hatte, war für ihn eine ganze Menge, und er war überrascht, daß er es gesagt hatte, überrascht, aber auch enttäuscht, weil er ihr unbedingt hatte sagen wollen, wie man sich fühlte, wenn man dumm war, Angst hatte, in die Welt hinauszugehen, und er hatte es nicht geschafft, hatte nicht die richtigen Worte gefunden, so daß dieses Gefühl immer noch in ihm drin war.
»Zeit. Es gibt viel Zeit, sehen Sie, wenn du dumm bist und nicht in die Welt hinausgehen kannst, viel Zeit, die du mit irgendwas anfüllen mußt, aber dann gibt es eigentlich gar nicht genug Zeit, nicht genug Zeit, um zu lernen, was du tun mußt, um keine Angst vor den Dingen zu haben, und ich muß lernen, was man tun muß, um keine Angst zu haben, so daß ich zurückgehen und bei Julie und Bobby bleiben kann, was ich wirklich schrecklich gern tun möchte, bevor die ganze Zeit abgelaufen ist. Es gibt riesige Mengen von Zeit und doch nicht genug, und das hört sich dumm an, nicht wahr?«
»Nein, Thomas, das hört sich überhaupt nicht dumm an.«
Er befreite sich nicht aus ihrer Umarmung. Er wollte umarmt werden.
»Weißt du, manchmal ist das Leben hart für jedermann«, sagte Cathy.
»Sogar für kluge Leute. Sogar für die klügsten.«
Mit einer Hand wischte er seine feuchten
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