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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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gut kannte. Könnte er nur auch so sein – intellektuell redlich. Auch dies ein rätselhafter Punkt auf dem kryptischen Zeugnis, das seine Mutter in irgendeiner Nische ihres Gehirns mit sich herumtrug, diesem Zeugnis, das ihm immer nur mit Müh und Not die Versetzung bewilligte. In intellektueller Redlichkeit könnte Jimmy besser abschneiden, wenn er sich nur mehr anstrengte.
    Und wenn er wenigstens einen blassen Schimmer hätte, was das eigentlich sein sollte.
    »Ich brauch kein Abendessen«, sagte er in solchen Fällen. »Ich hol mir später irgendwas.« Wenn sie diese Gekränktheitsnummer abziehen wollte, konnte sie es vor der Küchenuhr tun. Er hatte sie so eingestellt, dass die Meise Uhuuu rief und die Eule Zizibee. Sollte sie zur Abwechslung mal von ihnen enttäuscht sein.
    Ohnehin hatte er seine Zweifel, was Crakes Redlichkeit betraf, ob auf intellektuellem oder anderem Gebiet. Er wusste ein bisschen mehr über ihn als seine Mutter.

    Als Jimmys Mutter ihr Zerstörungswerk mit dem Hammer vollendet und sich spurlos aus dem Staub gemacht hatte, sagte Crake nicht viel. Er schien weder überrascht noch schockiert. Er sagte nur, manche Leute müssten sich manchmal verändern, und um sich zu verändern, brauchten sie einen Ortswechsel. Manchmal gehört eine Person zu deinem Leben, und auf einmal ist sie nicht mehr da, sagte er und empfahl ihm, sich mit den Stoikern zu beschäftigen. Diese letzte Bemerkung war einigermaßen ärgerlich: Crake war manchmal allzu belehrend und allzu freigebig mit seinem du solltest dies und du solltest das. Aber Jimmy schätzte seine Gelassenheit und den Mangel an Neugierde.
    Natürlich war Crake damals noch nicht Crake: Damals hieß er Glenn.
    Warum schrieb er sich mit zwei n statt mit einem? »Mein Vater mochte Musik«, lautete Crakes Erklärung, nachdem Jimmy sich überwunden hatte, ihn zu fragen, was eine Weile gedauert hatte. »Er hat mich nach irgendeinem toten Pianisten benannt, einem Wunderknaben mit zwei n.«
    »Musstest du Musikunterricht nehmen?«
    »Nein«, sagte Crake. »Er hat mich eigentlich nie zu irgendwas gezwungen.«
    »Welchen Sinn hatte das dann?«
    »Was?«
    »Dein Name. Die zwei n.«
    »Jimmy, Jimmy«, sagte Crake. »Nicht alles hat einen Sinn.«
    Schneemensch fällt es schwer, sich Crake als Glenn vorzustellen, so vollständig hat Crakes spätere Person seine frühere überdeckt. Dabei muss seine Crake-Seite von Anfang an vorhanden gewesen sein, denkt Schneemensch: Es gab nie einen echten Glenn, Glenn war nur eine Tarnung. In den Wiederholungen der Geschichte, die in Schneemensch ununterbrochen ablaufen, ist Crake niemals Glenn, auch nie Glenn-alias-Crake oder Crake/Glenn oder Glenn, später Crake. Er ist immer nur Crake, nichts weiter.
    Crake spart außerdem Zeit, denkt Schneemensch. Wozu Binde- oder Schrägstriche, wozu Attribute, wenn es nicht unbedingt notwendig ist?

    Crake tauchte im September oder Oktober in der HelthWyzer High auf, in einem der Monate, die man damals Herbst nannte. Es war ein heller, warmer, sonniger, sonst aber nicht weiter bemerkenswerter Tag. Crake war ein Neuzugang, das Ergebnis der Abwerbung einer Elterneinheit, wie sie zwischen den Komplexen gang und gäbe war. Kinder kamen und gingen, Pulte füllten und leerten sich, Freundschaften waren ungewiss.
    Jimmy war nicht besonders aufmerksam, als Crake von Melone Riley, ihrer Klassenlehrerin, die Ultratext unterrichtete, der Klasse vorgestellt wurde. Sie hieß in Wirklichkeit nicht Melone: Das war der Spitzname, den ihr die Jungen gegeben hatten; an ihren richtigen Namen kann sich Schneemensch nicht erinnern. Sie hätte sich nicht so tief zu seinem Read-A-Bildschirm hinunterbeugen dürfen, dass ihre großen runden Brüste beinahe seine Schulter berührten, hätte ihr NooSkins-T-Shirt nicht so stramm in ihre Zip-off-Shorts stecken dürfen – das lenkte ab.
    Als Melone verkündete, Jimmy werde seinen neuen Mitschüler Glenn herumführen und einweisen, trat ein Augenblick der Stille ein, in dem Jimmy hastig zu rekonstruieren versuchte, was sie gesagt hatte.
    »Jimmy, ich habe eine Bitte geäußert«, sagte Melone.
    »Klar, jederzeit, was immer Sie wollen«, sagte Jimmy, verdrehte die Augen und grinste lüstern, wollte es aber auch nicht zu weit treiben. Die Klasse lachte ein bisschen, sogar Ms. Riley schenkte ihm ein distanziertes, widerwilliges Lächeln. Mit seinem jungenhaften Charme kam er bei ihr fast immer durch. Er stellte sich gern vor, wie sie sich, wäre er nicht minderjährig und

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