Oryx und Crake
sie nicht seine Lehrerin und somit juristisch gefährdet, durch die Wand seines Schlafzimmers gegraben hätte, um ihre gierigen Finger in seinem jugendlichen Fleisch zu versenken.
Jimmy war damals etwas sehr mit sich selbst beschäftigt, denkt Schneemensch nachsichtig und ein wenig neidisch. Natürlich war er auch unglücklich. Das war selbstverständlich, sein Unglück. Er verwendete eine Menge Energie darauf.
Als Jimmy endlich so weit war, Crake zur Kenntnis zu nehmen, war er nicht sehr begeistert. Crake war ein bisschen größer als Jimmy, vielleicht fünf Zentimeter; auch dünner. Glatte dunkelbraune Haare, gebräunte Haut, grüne Augen, ein halbes Lächeln, ein herablassender Blick. Er war dunkel gekleidet, neutral, ohne irgendwelche Aufschriften, Bilder, Logos – ein No-Name-Stil. Möglicherweise war er älter als die anderen oder versuchte, älter zu wirken. Jimmy fragte sich, welchen Sport er trieb. Nicht Football, nichts, was mit Muskelkraft zu tun hatte. Er wirkte auch nicht wie ein Mannschaftsspieler oder einer, der sich Verletzungen aussetzte. Tennis vielleicht. (Jimmy spielte selbst Tennis.)
In der Mittagspause machte er sich mit Crake auf den Weg, sie holten sich beide etwas zu essen – Crake verschlang zwei riesige Sojawürste und ein großes Stück Schichttorte mit Kokosgeschmack: Vielleicht wollte er Gewicht machen –, und anschließend stapften sie durch die Gänge, besichtigten Klassenzimmer und Labors, und Jimmy lieferte die Kommentare dazu. Das ist die Sporthalle, das ist die Bibliothek da sind die Lesegeräte, für die musst du dich bis Mittag anmelden, dort drin ist der Duschraum der Mädchen, angeblich hat jemand ein Loch in die Wand gebohrt, aber ich hab’s noch nicht gefunden. Wenn du Dope rauchen willst, tu’s nicht auf dem Klo, das wird überwacht; im Entlüftungsgitter ist eine Mikrokamera für die Sicherheit, starr nicht hin, sonst wissen sie, dass du Bescheid weißt.
Crake sah sich alles an und sagte nichts. Er gab keine Information über sich preis. Sein einziger Kommentar lautete, das Chemolab sei eine Bruchbude.
Na gut, dachte Jimmy. Wenn er ein Arschloch sein will, bitte sehr, ist ein freies Land. Millionen vor ihm haben dieselbe Lebensentscheidung getroffen. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er plapperte und herumkasperte, während Crake ihm nur kurze, gleichgültige Blicke und dieses einseitige Halblächeln zuwarf. Trotzdem hatte er etwas. Jimmy war immer beeindruckt von dieser Art supercooler Lässigkeit, wenn sie von einem anderen kam: Sie vermittelte das Gefühl von verhaltener Kraft, die für etwas Wichtigeres als die momentane Gesellschaft aufgespart wird.
Jimmy verspürte auf einmal den Wunsch, Crake Eindruck zu machen, ihn zu irgendeiner Reaktion zu zwingen; dass ihm wichtig war, wie die anderen über ihn dachten, war eine seiner Schwächen. Deswegen fragte er Crake nach der Schule, ob er Lust habe, in eines der Einkaufszentren zu gehen, sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen, herumzuhängen, vielleicht seien auch ein paar Mädchen dort, und Crake sagte, warum nicht. Im Helth-Wyzer-Komplex – oder jedem anderen Komplex – gab es nach der Schule sonst nicht viel zu tun, nicht für Jugendliche ihres Alters, nichts, was irgendwie mit Gemeinschaft zu tun hatte. Es war nicht so wie in den Plebs. Es ging das Gerücht, dass die Jugendlichen da in Banden rumrannten, in wilden Horden. Sie warteten, bis bei einem von ihnen die Eltern aus dem Haus waren, und gingen zur Sache – fielen über die Wohnung her, tobten sich mit lauter Musik aus, füllten sich mit Marihuana und Alkohol ab, vögelten alles, die Hauskatze inklusive, zertrümmerten die Möbel, schossen sich zum Himmel. Klasse, dachte Jimmy. In den Komplexen hingegen war der Deckel immer fest zugeschraubt. Nächtliche Patrouillen, streng kontrollierte Ausgangszeiten für junge Gehirne, auf harte Drogen abgerichtete Schnüffelhunde. Einmal hatten sie sich etwas entspannt und eine echte Band hereingelassen – die Plebsland Dirtballs –, aber dabei hatte es Tumulte gegeben, deshalb blieb es bei dem einen Mal. Vor Crake brauchte man sich allerdings nicht zu rechtfertigen. Er war selber ein Komplexkind, er wusste Bescheid.
Im Einkaufszentrum könnte er vielleicht einen flüchtigen Blick auf Wakulla Price werfen, hoffte Jimmy; irgendwie war er noch immer in sie verliebt, obwohl sie ihn mit einer Ich-schätze-dich-als-meinen-Freund-Rede vernichtet hatte. Danach hatte er es mit einem zweiten Mädchen
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