Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
stinkenden Schlammpfütze geschrumpft, und die Everglades hatten drei Wochen lang gebrannt.
    Aber alle Eltern trauerten der Vergangenheit nach. Wisst ihr noch, wie man überall hinfahren konnte? Wisst ihr noch, wie alle in Plebsland lebten? Wisst ihr noch, wie wir an jeden beliebigen Ort auf der Welt fliegen konnten, ohne Angst zu haben? Erinnert ihr euch an die Hamburger-Lokale, immer echtes Rindfleisch, erinnert ihr euch an die Imbissstände? Erinnert ihr euch an New York, als es noch nicht New-New York war? Erinnert ihr euch an die Zeit, als das Wählen noch etwas bedeutet hat? Lauter Standardthemen für das Handpuppentheater in der Mittagspause. Ach, damals war alles viel besser. Huhu! Jetzt gehe ich in die Ewinkies-Schachtel. Kein Sex heute Abend!
    Seine Mutter war einfach eine Mutter, sagte Jimmy zu dem CorpSeCorps-Mann. Sie verhielt sich wie alle Mütter. Sie rauchte viel.
    »Hat sie irgendwelchen, äh, Organisationen angehört? Kamen irgendwelche komischen Leute zu euch nach Hause? Hat sie viel mit dem Mobiltelefon telefoniert?«
    »Wir wissen alle Informationen zu schätzen, die du beizusteuern hast, mein Junge«, sagte der andere Corps-Mann. Mein Junge gab den Ausschlag. Nein, sagte Jimmy, nicht dass er wüsste.
    Jimmys Mutter hatte ein paar neue Kleidungsstücke für ihn zurückgelassen, in Größen, in die er, wie sie sagte, bald hineinwachsen werde. Die Sachen waren eine Strafe, wie alle Kleider, die sie kaufte.
    Und sie waren zu klein. Er ließ sie in einer Schublade verschwinden.

    Sein Vater war ziemlich erschüttert, man sah es ihm an; er hatte Angst.
    Seine Frau hatte gegen sämtliche geltenden Regeln verstoßen, offensichtlich hatte sie nebenbei ein Zweitleben geführt, und er hatte nichts davon bemerkt. So etwas warf ein schlechtes Licht auf den Mann.
    Er sagte, er habe auf dem zerstörten Computer keine wichtigen Informationen gespeichert, aber das hätte er natürlich so oder so behauptet, und ihm das Gegenteil zu beweisen, war unmöglich. Also wurde er mitgenommen und verhört, ziemlich lange. Vielleicht wurde er gefoltert, wie man in alten Filmen und auf manchen üblen Websites sehen konnte, mit Elektroden und Schlagstöcken und rot glühenden Nägeln, und Jimmy machte sich Sorgen und Vorwürfe. Warum hatte er das alles nicht kommen sehen und beizeiten abgewendet, statt niederträchtig den Bauchredner zu spielen?
    Während der Abwesenheit von Jimmys Vater wohnten zwei gusseiserne CorpSeCorps-Frauen im Haus, die sich um ihn kümmern sollten, hieß es. Eine Lächelnde und eine Ungerührte. Sie führten zahlreiche Telefongespräche auf ihren Mobiltelefonen; sie sahen sich die Fotoalben an und durchsuchten die Schränke seiner Mutter und versuchten Jimmy zum Reden zu bringen. Sie ist wirklich hübsch.

    Glaubst du, sie hatte einen Freund? War sie öfter in Plebsland? Was hätte sie dort tun sollen, sagte Jimmy, und sie sagten, manchen gefalle es dort. Wieso, fragte Jimmy wieder, und die Ungerührte sagte, manche Leute seien eben seltsam, und die Lächelnde lachte und errötete und sagte, man bekäme dort manches, was es hier nicht gebe. Was zum Beispiel, wollte Jimmy fragen, aber er verzichtete darauf, denn die Antwort hätte ihn nur in weitere Fragen verstrickt, etwa nach den Vorlieben und Wünschen seiner Mutter. Der Verrat, den er in der HelthWyzer-Schulcafeteria an ihr begangen hatte, war schlimm genug; zu mehr war er nicht bereit.
    Die beiden machten ihm Omelettes, die zäh wie Leder waren; wahrscheinlich hofften sie, eine Lücke in seine Abwehr zu schlagen, indem sie ihn fütterten. Als das nicht wirkte, gab es Tiefkühlgerichte aus der Mikrowelle und ins Haus gelieferte Fertigpizza. War deine Mutter oft im Einkaufszentrum? Ist sie tanzen gegangen? Oh, ganz bestimmt war sie tanzen. Jimmy hätte sie am liebsten geschlagen. Wäre er ein Mädchen gewesen, hätte er in Tränen ausbrechen und ihr Mitgefühl erregen können, um sie auf diese Weise zum Schweigen zu bringen.
    Als Jimmys Vater von seinem unbekannten Aufenthaltsort zurückgekehrt war, nahm er therapeutische Hilfe in Anspruch. Er sah auch aus wie einer, der es nötig hatte, mit grünem Gesicht, die Augen rot und verquollen. Auch Jimmy wurde in die Therapie geschickt, aber das war Zeitverschwendung.
    Du bist sicher unglücklich, dass deine Mutter fort ist.
    Ja.
    Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen, mein Jungt. Es ist nicht deine Schuld, dass sie gegangen ist.
    Was meinen Sie damit?
    Es ist okay, du kannst deine Gefühle ruhig

Weitere Kostenlose Bücher