Oryx und Crake
sagte: Klar, wieso nicht, denn abgesehen von ihrer Verbindung mit seinem Vater mochte er sie ganz gern und wollte nett zu ihr sein.
Sie bemühte sich wirklich. Sie lachte über seine Witze, ein bisschen verspätet manchmal – sie war schließlich kein Wortmensch, rief er sich in Erinnerung –, und manchmal, wenn Jimmys Vater fort war, machte sie ein Mikrowellen-Abendessen nur für sie beide; Lasagne und Caesar Salad waren ihre Standardgerichte. Manchmal saß sie neben ihm auf der Couch und sah sich DVD-Filme mit ihm an, machte vorher eine Schüssel Popcorn, goss geschmolzenen Butterersatz darüber und griff mit fettigen Fingern hinein, die sie während der grausigen Szenen ableckte, und Jimmy bemühte sich währenddessen, nicht auf ihre Brüste zu starren. Sie fragte ihn, ob es irgendetwas gebe, das er wissen wolle, über, äh, na ja. Sie und seinen Vater und was mit der Ehe seiner Eltern passiert sei. Er sagte nein.
Insgeheim, nachts, sehnte er sich nach Killer. Und auch – in irgendeinem Winkel, den er sich selbst nicht ganz eingestehen konnte –
nach seiner echten, sonderbaren, unzulänglichen, unglücklichen Mutter.
Wohin war sie verschwunden, in welcher Gefahr war sie? Dass sie in Gefahr war, schien ihm sicher. Man hatte nach ihr gesucht, das wusste er, und an ihrer Stelle würde er nicht gefunden werden wollen.
Aber sie hatte gesagt, sie werde sich mit ihm in Verbindung setzen –
warum tat sie es nicht? Nach einer Weile bekam er tatsächlich mehrere Postkarten, mit Briefmarken aus England, später Argentinien. Sie waren unterzeichnet mit »Tante Monika«, aber er wusste, dass sie von ihr waren. »Hoffentlich geht’s dir gut«, stand darauf, mehr nicht. Sicher wusste sie, dass jede Karte von hundert Schnüfflern gelesen wurde, bevor sie bei Jimmy ankam, und sie hatte Recht, denn mit jeder Karte kamen auch die Corps-Leute und fragten, wer Tante Monika sei. Das wisse er nicht, sagte Jimmy. Er glaubte nicht, dass sich seine Mutter in einem der Länder aufhielt, aus denen die Postkarten kamen, so dumm war sie nicht. Wahrscheinlich ließ sie die Karten von anderen verschicken.
Traute sie ihm nicht? Offenbar nicht. Er hatte das Gefühl, dass er sie enttäuscht, sie in einem entscheidenden Punkt im Stich gelassen hatte.
Er hatte nie begriffen, was von ihm erwartet wurde. Wenn er nur noch eine Chance bekäme, sie glücklich zu machen.
»Ich bin nicht meine Kindheit«, sagt Schneemensch laut. Er hasst diese Wiederholungen. Er kann sie nicht abschalten, er kann nicht das Thema wechseln, er kann nicht aus dem Zimmer gehen.
Was er braucht, ist mehr innere Disziplin oder eine mystische Silbe, die er dauernd wiederholen könnte, um sich auszublenden. Wie nannte man das? Ein Mantra. Das hatten sie in der Grundschule. Religion der Woche. Also gut, Kinder, ihr seid jetzt mäuschenstill, damit bist vor allem du gemeint, Jimmy. Heute tun wir so, als ob wir in Indien lebten, und beschäftigen uns mit einem Mantra. Ist das nicht schön? Wir suchen uns jetzt alle ein Wort aus, jeder ein anderes, so dass jeder sein spezielles Mantra hat.
»Halt die Wörter fest«, schärft er sich ein. Die sonderbaren Wörter, die alten Wörter, die seltenen Wörter. Karniese. Norne. Gelichter.
Lüsternheit. Wenn sie aus seinem Kopf verschwunden sind, diese Wörter, sind sie verloren, überall, für immer. Als hätte es sie nie gegeben.
Crake
Ein paar Monate, bevor Jimmys Mutter verschwand, tauchte Crake auf.
Beides geschah im selben Jahr. Was war der Zusammenhang? Es gab keinen, außer dass die beiden sich anscheinend gut verstanden. Crake gehörte zu der Hand voll Freunde, die Jimmys Mutter nicht ablehnte: Seine männlichen Freunde fand sie meist infantil, die Freundinnen hirnlos oder vulgär. Das sprach sie zwar nie aus, aber man sah ihr an, was sie dachte.
Crake dagegen, Crake war anders. Viel erwachsener, sagte sie; sogar erwachsener als viele Erwachsene. Man konnte ein objektives Gespräch mit ihm führen, ein Gespräch, bei dem Ereignisse und Hypothesen logisch durchdacht wurden bis zum Schluss. Zwar erlebte Jimmy nie mit, dass die beiden ein Gespräch dieser Art führten, aber sie mussten es getan haben, sonst hätte sie das nicht gesagt. Wann und unter welchen Umständen fanden diese logischen, erwachsenen Gespräche statt? Das fragte er sich oft.
»Dein Freund ist intellektuell redlich«, sagte Jimmys Mutter.
»Er macht sich nichts vor.« Dann starrte sie Jimmy mit diesem blauäugigen waidwunden Blick an, den er so
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