Oryx und Crake
hinaufzuklettern; andere wiesen Störungen des lautlichen Ausdrucks auf; bei einer dritten Versuchsreihe beschränkte sich das Sprachvermögen auf Substantive und Verben und auf Brüllen.
Aber Crake hat es geschafft, denkt Schneemensch, er hat es hingekriegt. Da sitzen sie, alle vier, die Köpfe zu dem Kind hinuntergebeugt, und schnurren drauflos wie Automotoren.
»Was ist dem Jungen passiert?«, fragt er.
»Er wurde gebissen«, sagt Abraham. »Eines von Oryx’ Kindern hat ihn gebissen.«
Das ist neu. »Was für eines?«
»Eine Luxkatze. Ohne Grund.«
»Es war außerhalb unseres Kreises, im Wald«, sagt eine Frau –
Eleanor Roosevelt? Kaiserin Josephine? – Schneemensch kann sich nicht immer auf ihre Namen besinnen.
»Wir waren gezwungen, sie mit Steinen zu bewerfen, um sie zu vertreiben«, sagt Leonardo da Vinci, der Mann im Schnurrquartett.
Jetzt machen die Luxkatzen also schon Jagd auf Kinder, denkt Schneemensch. Vielleicht wächst ihr Hunger – wie bei ihm selbst. Aber sie haben doch eine Menge Kaninchen zur Auswahl, es kann nicht nur Hunger sein. Vielleicht sehen sie in Crakes Kindern, den Kleinen jedenfalls, einfach eine weitere Kaninchenspielart, die noch dazu leichter zu fangen ist.
»Heute Abend werden wir Oryx um Verzeihung bitten«, sagt eine der Frauen – Sacajawea? –, »wegen der Steine. Und wir werden sie bitten, ihren Kindern zu sagen, sie sollen uns nicht beißen.«
Er hat die Frauen nie bei der Kommunion mit Oryx beobachtet, obwohl sie häufig davon sprechen. In welcher Form geschieht sie?
Wahrscheinlich sagen sie eine Art Gebet auf oder praktizieren eine Anrufung, denn sie werden wohl kaum glauben, dass ihnen Oryx leibhaftig erscheint. Vielleicht fallen sie in Trance. Crake dachte, er hätte das alles abgeschafft, hätte den, wie er sagte, G-Punkt des Hirns beseitigt. Gott ist ein Neuronen-Cluster, hatte er behauptet. Es war allerdings ein heikles Problem: Wird in dieser Gehirnregion zu viel entfernt, kommt ein Zombie oder ein Psychopath heraus. Diese Leute waren keines von beiden.
Irgendetwas führen sie jedoch im Schilde, und das hat Crake nicht vorhergesehen: Sie kommunizieren mit dem Unsichtbaren, sie haben Ehrfurcht entwickelt. Schön für sie, denkt Schneemensch. Es befriedigt ihn, wenn Crake widerlegt wird. Bei der Herstellung von Götzenbildern hat er sie allerdings noch nicht beobachtet.
»Wird das Kind wieder gesund?«, fragt er.
»Ja«, sagt die Frau ruhig. »Die Bisswunden schließen sich schon.
Siehst du?«
Die übrigen Frauen verrichten ihre üblichen morgendlichen Beschäftigungen. Manche versorgen das Feuer in der Mitte, andere kauern ringsherum und wärmen sich. Ihre inneren Thermostate sind auf tropische Bedingungen eingestellt, so dass sie manchmal frieren, wenn die Sonne noch nicht hoch am Himmel steht. Das Feuer wird mit abgestorbenen Zweigen und Asten unterhalten, in erster Linie aber mit Dung, der in Laibchen, der Größe und Form nach einem Hamburger ähnlich, in der Mittagssonne getrocknet wird. Da Crakes Kinder Vegetarier sind und sich vorwiegend von Gras, Blättern und Wurzeln ernähren, brennt das Material ziemlich gut. Soweit er weiß, ist die Versorgung des Feuers die einzige Tätigkeit der Frauen, die als Arbeit bezeichnet werden kann. Das heißt abgesehen davon, dass sie bei der Erbeutung seines wöchentlichen Fisches mithelfen. Und ihn über dem Feuer garen. Für sich selbst kochen sie nichts.
»Sei gegrüßt, o Schneemensch«, sagt die nächste Frau, bei der er vorbeikommt. Ihr Mund ist grün vom Frühstück, das sie zerkaut hat. Sie stillt einen Einjährigen, der zu Schneemensch aufblickt, dabei die Brustwarze aus dem Mund verliert und zu schreien anfängt. »Das ist nur Schneemensch«, sagt sie zu ihm. »Der tut dir nichts.«
Schneemensch hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, wie rasend schnell diese Kinder wachsen. Dieser Einjährige sieht aus, als wäre er fünf. Im Alter von vier wird er ein Jugendlicher sein. Wir verschwenden viel zu viel Zeit mit der Kinderaufzucht, pflegte Crake zu sagen. Mit der Aufzucht von Kindern und mit dem Kindsein, Keine andere Spezies verbraucht dafür an die sechzehn Jahre.
Einige ältere Kinder haben ihn entdeckt; sie kommen näher und beginnen ihren Singsang: »Schneemensch, Schneemensch!« Also hat er seine Faszination doch noch nicht eingebüßt. Jetzt starren ihn alle neugierig an und fragen sich, was er hier sucht. Er kommt nie ohne Grund. Bei seinen ersten Besuchen schlossen sie aus seiner
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