Oryx und Crake
Annehmlichkeiten dort dichter gesät waren. Oder eine der Seniorenkolonien, eine der abgeriegelten Wohnanlagen, so etwas in der Art. Aber er hat keine Landkarte mehr und kann es nicht riskieren, sich zu verlaufen und in der Abenddämmerung ohne Obdach und ohne geeigneten Baum herumzuirren. Mit Sicherheit wären ihm sehr bald die Hunölfe auf den Fersen.
Er könnte ein Organschwein in die Falle locken, totschlagen und heimlich schlachten. Die Spuren des Massakers müsste er allerdings gründlich beseitigen: Ihm schwant, dass er es sich mit Crakes Kindern endgültig verscherzt hätte, wenn er ihnen den Anblick von verspritztem Blut und Gedärm zumutet. Aber ein Organschwein-Festmahl täte ihm unendlich gut. Organschweine sind fett, und Fett ist gleich Kohlehydrate. Oder nicht? Er durchforstet seine Erinnerung nach einer Lektion, einem lange verschollenen Diagramm, das ihm Auskunft gäbe: Er hat das doch alles mal gewusst. Aber es ist zwecklos, die Aktenordner sind leer.
»Hau den Speck in die Pfanne«, sagt er. Er kann ihn fast riechen, diesen brutzelnden Speck, mit einem Spiegelei, serviert mit Toast und einer Tasse Kaffee… Mit Sahne?, flüstert eine Frauenstimme.
Irgendeine freche namenlose Zofe aus einer Weiße-Schürzchen-und-Federwisch-Pornofarce. Er merkt, dass ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.
Fett ist nicht gleich Kohlehydrate. Fett ist Fett. Er schlägt sich auf die Stirn, hebt die Schultern, breitet die Hände aus. »So, Klugscheißer«, sagt er. »Nächste Frage?«
Übersehen Sie nicht eine ergiebige Nahrungsquelle, die vielleicht nicht weiter entfernt ist als Ihre Füße, sagt eine andere Stimme in einem unangenehm belehrenden Tonfall, den er wiedererkennt: Er stammt aus einem Überlebenshandbuch, in dem er einmal auf einer fremden Toilette geblättert hat. Wenn Sie von einer Brücke springen, kneifen Sie den Arsch zusammen, damit Ihnen nicht das Wasser in den After eindringt.
Wenn Sie in Treibsand versinken, nehmen Sie einen Skistock.
Fantastischer Rat. Das ist derselbe Typ, der behauptet hat, man könne mit einem angespitzten Ast einen Alligator fangen. Als Imbiss empfiehlt er Würmer und Maden. Wenn man will, kann man sie toasten.
Schneemensch sieht sich schon umgestürzte Baumstämme herumwälzen, aber noch ist es nicht so weit. Zuerst kann er etwas anderes versuchen: Er wird auf demselben Weg wie schon einmal zum Rejooven-Esense-Komplex zurückkehren. Es ist eine lange Wanderung, länger als jede, die er bisher unternommen hat, aber wenn er hinkommt, ist es die Anstrengung wert. Er ist sicher, dass sich dort noch eine Menge gehalten hat: nicht nur Konserven, sondern auch Alkohol. Als die Komplex-Bewohner kapiert hatten, was los war, ließen sie alles stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Mit Sicherheit nahmen sie sich nicht die Zeit, die Supermärkte auszuräumen.
Was er allerdings wirklich braucht, ist eine Energiepistole – damit könnte er Organschweine erlegen, sich die Hunölfe vom Leib halten –
und, Idee! Glühbirne über dem Kopf! – er weiß genau, wo eine zu finden ist. Crakes Blasenkuppel enthält ein ganzes Waffenarsenal, das noch genau dort sein müsste, wo er es zurückgelassen hat. Paradice, so nannten sie den Ort. Er war einer der Engel, die das Tor bewachten, sozusagen, er weiß, wo was ist, und wird schon alles auftreiben, was er braucht. Ein schneller Beutezug, rein, raus, schnappen und packen.
Dann ist er für alles gerüstet.
Aber du willst nicht dorthin zurück, oder?, flüstert eine sanfte Stimme.
»Nicht unbedingt.«
Warum?
»Darum.«
Los, sag schon.
»Vergessen.«
Nein, hast du nicht. Du hast nichts vergessen.
»Ich bin ein kranker Mann«, verteidigt er sich. »Ich sterbe am Skorbut! Geh weg!«
Was er jetzt braucht, ist Konzentration. Setze Prioritäten. Reduziere alles auf das Wesentliche. Das Wesentliche ist: Wenn du nichts zu essen bekommst, wirst du sterben. Noch wesentlicher geht’s nicht.
Der Rejoov-Komplex ist zu weit weg für einen beiläufigen Tagesausflug: Es ist eher eine Expedition. Er wird über Nacht fortbleiben müssen. Die Vorstellung ist ihm nicht angenehm – wo soll er schlafen? –, aber wenn er vorsichtig ist, wird ihm schon nichts passieren.
Mit Sveltana-Würstchen im Bauch und einem Ziel in Sicht, beginnt sich Schneemensch beinahe normal zu fühlen. Er hat eine Mission: Er freut sich sogar darauf. Er könnte alle möglichen Köstlichkeiten aufstöbern.
Kirschen in Brandy; geröstete Erdnüsse; eine kostbare Dose
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