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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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kommen mit dir«, sagt Abraham Lincoln. Mehrere Männer sehen ihn an, dann nicken sie.
    »Nein!«, ruft Schneemensch bestürzt aus. »Ich meine, ihr dürft Crake nicht sehen, es ist nicht erlaubt.« Er will sie nicht im Schlepptau haben, um keinen Preis! Sie sollen keine Schwächen oder Misserfolge seinerseits miterleben. Außerdem könnte mancher Anblick auf dem Weg ihrer Gemütslage abträglich sein. Eine Flut von Fragen wäre die unausbleibliche Folge. Und zu allem Überfluss würde es ihn zu Tränen langweilen, wenn er einen ganzen Tag in ihrer Gesellschaft verbringen müsste.
    »Wir würden mit dir gehen, um dich zu beschützen«, sagt Benjamin Franklin und betrachtet den langen Wanderstock. »Vor den beißenden Luxkatzen, vor den Hunölfen.«
    »Dein Geruch ist nicht besonders stark«, fügt Napoleon hinzu.
    Das findet Schneemensch beleidigend selbstgefällig. Außerdem ist das Schönfärberei: Wie sie alle wissen, riecht er durchaus intensiv, es ist nur nicht der richtige Geruch. »Mir wird schon nichts zustoßen«, sagt er.
    »Bleibt ihr nur hier.«
    Die Männer blicken zweifelnd drein, aber wahrscheinlich werden sie tun, was er sagt. Um seine Autorität zu bestärken, hält er sich die Uhr ans Ohr. »Crake sagt, er wird über euch wachen«, sagt er. »Damit euch nichts passiert.«
    »Crake wacht tags über uns, und Oryx wacht des Nachts«, sagt Abraham Lincoln pflichtbewusst. Er klingt nicht besonders überzeugt.
    »Crake wacht immer über uns«, sagt Simone de Beauvoir heiter. Sie ist eine gelbbraune Frau, die Schneemensch an Dolores erinnert, seine philippinische Kinderfrau aus längst vergangenen Zeiten; manchmal muss er dem Bedürfnis widerstehen, sich vor ihr auf die Knie zu werfen und die Arme um ihre Taille zu schlingen.
    »Er passt gut auf uns auf«, sagt Madame Curie. »Du musst ihm sagen, dass wir dankbar sind.«

    Schneemensch geht den Fischpfad zurück. Ihm ist schon wieder zum Weinen: Nichts geht ihm so an die Nieren wie die Großzügigkeit dieser Leute, ihre Hilfsbereitschaft. Auch ihre Dankbarkeit gegenüber Crake.
    Es ist so anrührend und so fehl am Platz.
    »Crake, du Vollidiot«, sagt er, mit feuchten Augen. Dann hört er eine Stimme – seine eigene! –, die huhu! sagt; er sieht es vor sich wie ein gedrucktes Wort in einer Comicsprechblase. Wasser rinnt ihm übers Gesicht.
    »Nicht schon wieder«, sagt er. Was ist das für ein Gefühl? Es ist nicht eigentlich Wut; es ist Kummer. Auch das ein altes Wort, aber brauchbar.
    Kummer umfasst mehr als nur Crake, und in der Tat, weshalb Crake allein die Schuld zuschieben?
    Vielleicht ist er nur neidisch. Wieder einmal neidisch. Auch er fände es nett, unsichtbar zu sein und angebetet zu werden. Auch er wäre gern anderswo. Aber diese Hoffnung ist müßig: Er steckt bis zum Hals im Hier und Jetzt.
    Er wird langsamer, schlurft dahin, bleibt schließlich stehen. Ach, huhu!
    Warum hat er sich nicht im Griff? Aber was soll’s, es sieht ihn ja keiner.
    Trotzdem, die Geräusche, die er erzeugt, kommen ihm vor wie das maßlose Heulen eines Clowns – wie die um Beifall heischende Darstellung von Elend.
    Hör auf zu flennen, mein Junge, sagt die Stimme seines Vaters. Reiß dich zusammen. Du bist hier der Mann.
    »Genau!«, schreit Schneemensch. »Und was würdest du vorschlagen?
    Du warst ja so ein tolles Vorbild!«
    Doch an die Bäume ist jegliche Ironie verschwendet. Er wischt sich mit der freien Hand die Nase und geht weiter.

    Bläue

    Nach dem Stand der Sonne ist es ungefähr neun Uhr morgens, als Schneemensch den Fischpfad verlässt und landeinwärts geht. Wo die Brise vom Meer nicht mehr hingelangt, herrscht eine drückende Schwüle, und er lockt ein Gefolge kleiner grüner Stechfliegen an. Er ist barfuss – seine Schuhe sind schon vor einiger Zeit zerfallen; sie wären ihm auch zu heiß und feucht, und er braucht sie ohnehin nicht mehr, denn seine Fußsohlen sind inzwischen hart wie alter Gummi. Trotzdem tritt er vorsichtig auf: Es könnten Glasscherben, verbogene Blechstücke herumliegen. Auch Schlangen könnten in der Nähe sein, oder andere bösartige, bissige Wesen, und er hat keine andere Waffe als seinen Stock.
    Zuerst geht er unter Bäumen dahin, die einmal ein Park waren. In einiger Entfernung hört er das bellende Husten einer Luxkatze. Das ist ihr Warnlaut: Vielleicht ist es ein Männchen, das auf ein zweites Männchen gestoßen ist. Dann kommt es unvermeidlich zum Kampf; der Sieger bekommt alles – sämtliche Weibchen des Reviers –

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