Oryx und Crake
aussetzen.«
»Laufgräben?«
»Ja. Besser als jedes Alarmsystem – diese Viecher kann man nicht entwaffnen. Und es ist unmöglich, sich mit ihnen anzufreunden, nicht wie mit echten Hunden.«
»Was ist, wenn sie ausbrechen? Wenn sie durchdrehen? Anfangen, sich fortzupflanzen? Dann ist doch im Handumdrehen die ganze Population außer Kontrolle – wie bei diesen grünen Kaninchen?«
»Das wäre allerdings ein Problem«, sagte Crake. »Aber sie kommen nicht raus. Die Natur ist für die Zoos, was Gott für die Kirchen ist.«
»Was soll das heißen?«, fragte Jimmy. Er hörte nicht sehr genau zu, in Gedanken war er bei den ChickieNobs und den Hunölfen. Warum hatte er das Gefühl, dass eine Grenze überschritten worden, das Fass übergelaufen war? Wie viel ist zu viel, wie weit ist zu weit?
»Diese Mauern und Gitterstangen sind aus gutem Grund da«, sagte Crake. »Nicht um uns draußen, sondern um sie drinnen zu halten. In beiden Fällen braucht die Menschheit Barrieren.«
»Sie?«
»Die Natur und Gott.«
»Ich dachte, du glaubst nicht an Gott«, sagte Jimmy.
»Ich glaub auch nicht an die Natur«, sagte Crake. »Jedenfalls nicht an die Natur.«
Hypothetisch
»Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte Jimmy am vierten Tag. Er hatte die Frage für den richtigen Moment aufbewahrt. »Ich meine, die Auswahl an Mädels ist schließlich nicht schlecht.«
Das war ironisch gemeint. Er konnte sich nicht mit dem Woody-Woodpecker-Mädchen zusammen vorstellen oder mit einem der Mädchen, die sich die Brust mit Zahlen dekoriert hatten, aber Crake konnte er sich ebenso wenig mit ihnen vorstellen: Dafür war er zu weitläufig.
»Nicht als solche«, sagte Crake kurz angebunden.
»Was soll das heißen, nicht als solche! Du hast ein Mädchen, aber sie ist kein menschliches Wesen?«
»Beziehungen sind in diesem Stadium nicht erwünscht«, sagte Crake und klang wie ein Ratgeber. »Wir sollen uns auf unsere Arbeit konzentrieren.«
»Schlecht für die Gesundheit«, sagte Jimmy. »Du solltest dir eine fürs Bett besorgen.«
»Leicht gesagt«, antwortete Crake. »Die Grille bist du – ich bin die Ameise. Ich kann’s mir nicht leisten, meine Zeit mit unproduktiven Zufallsbekanntschaften zu verschwenden.«
Zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben fragte sich Jimmy – war das möglich? –, ob Crake vielleicht neidisch war. Aber vielleicht war er auch nur ein verklemmter Wichtigtuer; vielleicht hatte Watson-Crick einen schlechten Einfluss auf ihn. Was ist also die Superhirn-Triathlon-Ultralehensaufgabe?, hätte Jimmy am liebsten gefragt. Kann man das vielleicht erfahren? »Ich würde es nicht als Verschwendung bezeichnen«, sagte er stattdessen, um Crake aufzuheitern, »es sei denn, du kriegst sie nicht rum.«
»Wenn es wirklich dringend ist, kann man sich vom Studentenservice was arrangieren lassen«, sagte Crake etwas steif. »Den Preis dafür ziehen sie einem vom Stipendium ab, genauso wie Kost und Logis. Die Arbeiterinnen kommen aus Plebsland rein, es sind ausgebildete Profis.
Natürlich werden sie vorher auf Krankheiten untersucht.«
»Der Studentenservice? Das darf doch nicht wahr sein! Die machen was?«
»Das ist durchaus sinnvoll«, sagte Crake. »Auf diese Weise werden keine Energien in unproduktive Kanäle gelenkt und Kurzschlusshandlungen vermieden. Den Studentinnen steht natürlich dieselbe Möglichkeit offen. Du kannst dir jede beliebige Hautfarbe aussuchen, jedes Alter – na ja, fast jedes. Jeden körperlichen Typ. Sie besorgen dir alles. Wenn du schwul bist oder Fetischist irgendeiner Sorte, ist das auch kein Problem.«
Jimmy dachte zuerst, Crake mache Witze, aber es war keiner. Liebend gern hätte er Crake gefragt, was er denn ausprobiert habe – eine Beinamputierte zum Beispiel? Aber die Frage kam ihm auf einmal indiskret vor. Sie hätte auch als Spott missverstanden werden können.
Das Essen im Speisesaal von Crakes Fakultät war fantastisch – echte Krabben statt der CrustaeSoy, die sie in Martha Graham bekamen, und wahrscheinlich echtes Huhn, glaubte Jimmy, obwohl er darauf verzichtete, weil ihm die ChickieNobs nicht aus dem Kopf gingen; und etwas, das sehr nach echtem Käse aussah, aber Crake sagte, es stamme von einem Gemüse, einer neuen Zucchiniart, die gerade getestet wurde.
Die Nachspeisen enthielten jede Menge Schokolade, echte Schokolade, und der Kaffee viel Kaffee. Nicht verlängert mit gerösteten Getreideprodukten oder Melasse. Es war Happicuppa – na und? Und echtes Bier. Das
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