Oryx und Crake
abnagte.
»Essen halt«, sagte Crake gleichgültig.
An Tag eins besichtigten sie einige der Wunderwerke von Watson-Crick. Crake interessierte sich für alles, sämtliche laufenden Projekte.
Immer wieder sagte er: »Äußerst zukunftsträchtig«, was nach dem dritten Mal irritierend wurde.
Erst besuchten sie die Abteilung Dekobotanik, wo ein fünfköpfiges Team von Studenten im letzten Studienjahr die Intelligente Tapete entwickelte, die entsprechend der jeweiligen Stimmung des Bewohners die Farbe wechselte. Die Tapete, teilten sie Jimmy mit, bestehe aus einer modifizierten Form der energieempfindlichen Kinlian-Alge sowie einer darunter liegenden Schicht aus Algennährstoffen; allerdings müssten noch einige Macken beseitigt werden. Bei feuchtem Wetter zum Beispiel sei die Tapete sehr kurzlebig, denn dann verzehre sie sämtliche Nährstoffe und werde grau; auch könne sie noch nicht zwischen sabbernder Lüsternheit und mörderischer Wut unterscheiden und habe die Tendenz, ein erotisches Rosa anzunehmen, wenn man eigentlich ein düsteres, vor Wut platzendes Grünlich-Rot brauche.
Außerdem arbeitete das Team an einer Serie von Handtüchern, die sich weitgehend ähnlich verhalten sollten, aber das Grundproblem allen marinen Lebens war noch nicht gelöst: Wenn Algen nass werden, quellen sie auf und beginnen zu wachsen, und der Anblick der Handtücher vom Vorabend, die zu rechtwinkligen Polstern angeschwollen langsam über den Badezimmerboden krochen, hatte die Testpersonen bisher wenig begeistert.
»Äußerst zukunftsträchtig«, sagte Crake.
Als Nächstes besichtigten sie die NeoAgrowissenschaften –
AgriCouture, sagten die Studenten dazu. Vor dem Betreten der Anlage mussten sie Bioanzüge anlegen, sich ausgiebig die Hände schrubben und einen Nase-Mund-Filter aufsetzen, denn was sie hier zu sehen bekommen sollten, war noch nicht bioformgeprüft, jedenfalls nicht vollständig. Eine Frau mit einem Lachen wie Woody Woodpecker führte sie durch die Korridore.
»Das ist das Neueste«, sagte Crake.
Was sie sahen, war ein großes knollenförmiges Objekt, das mit einer getüpfelten weißlich-gelben Haut bedeckt zu sein schien. Aus dem Gegenstand ragten zwanzig dicke fleischige Röhren, und am Ende jeder Röhre wuchs eine weitere Knolle.
»Was zum Teufel ist das denn?«, sagte Jimmy.
»Das sind Hühner«, sagte Crake. »Hühnerteile. Auf dem hier wächst nur Hühnerbrust. Es gibt auch welche, die auf Keulen spezialisiert sind, zwölf Stück pro Wachstumseinheit.«
»Aber die haben ja keine Köpfe«, sagte Jimmy. Das Konzept war ihm klar, schließlich war er mit dem Sus multiorganifer aufgewachsen, doch dieses Ding ging wirklich zu weit. Die Organschweine seiner Kindheit hatten wenigstens Köpfe gehabt.
»Das da in der Mitte ist der Kopf«, sagte die Frau. »Oben ist die Mundöffnung, dort werden Nährstoffe eingefüllt. Augen, Schnabel und so weiter sind überflüssig, das brauchen sie nicht.«
»Das ist ja grauenhaft«, sagte Jimmy. Das Ding war ein Albtraum.
Eine Knolle aus tierischem Protein.
»Stell dir den Bauplan der Seeanemone vor«, sagte Crake. »Das hilft.«
»Aber was denkt es?«, sagte Jimmy.
Die Frau stieß ihr fröhliches Spechtjodeln aus und erklärte, man habe sämtliche Hirnfunktionen entfernt, die nicht mit Verdauung, Assimilation der Nährstoffe und Wachstum zu tun hätten.
»Es ist eine Art Hühner-Hakenwurm«, sagte Crake.
»Die Zugabe von Wachstumshormonen ist hier nicht mehr nötig«, sagte die Frau. »Das rasche Wachstum ist einprogrammiert. Eine Hühnerbrust dauert nur noch zwei Wochen – das ist eine dreiwöchige Verbesserung gegenüber den effizientesten Schwachlicht-Hochdichte-Hühnerzuchtbetrieben, die es bisher gegeben hat. Und die
Tierschutzfreaks können auch nichts mehr sagen, denn dieses Ding empfindet keinen Schmerz.«
»Die Jungs werden einen Sack Geld machen«, sagte Crake, als sie wieder draußen waren. Die Studenten am Watson-Crick hatten Anspruch auf die Hälfte der Einnahmen aus allen ihren Erfindungen: Das sei ein enormer Ansporn, sagte Crake. »ChickieNobs wollen sie das Zeug nennen.«
»Sind sie schon auf dem Markt damit?«, fragte Jimmy matt. Er konnte sich nicht vorstellen, je so etwas zu essen – als hätte man eine riesige Warze auf dem Teller. Aber wie bei den Brustimplantaten – den guten –
würde ihm der Unterschied vielleicht gar nicht auffallen.
»Die Franchise-Vergabe für Take-Out ist schon gelaufen«, sagte Crake. »Die Investoren stehen um
Weitere Kostenlose Bücher