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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Heilige im Kampf gegen einen Drachen erstarrt. Das Wasser schien wie Nebel in der Luft zu schweben. Ein Akkordeonspieler entlockte seinem Instrument traurige, verzagte Töne. Ein Mädchen, das mit Pinsel und Palette in der Hand neben einer kleinen Staffelei auf einem Klappstuhl saß, malte die Kathedrale Notre-Dame in der Ferne. Wie aus heiterem Himmel frischte der Wind auf, packte den Hut eines Passanten und warf ihn in die Luft. Joe folgte der Frau, die auf die engen, sich windenden Gassen des Quartier Latin zusteuerte. Er steckte sich eine Zigarette an, worauf blauer Rauch hinter ihm herwehte, als hätte er einer fahrenden Lokomotive den Dampf geklaut. Die Straßen waren gepflastert und alt und gedrängt voll mit Menschen, von denen ihm jedoch keiner Beachtung schenkte. Im Schaufenster eines Blumenladens bemerkte er sein eigenes Spiegelbild. Wie ein ausgewrungener Waschlappen sah er aus.
    Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Er folgte der Frau, in sicherer Anonymität durch die Menge. Die Frau ging immer weiter, überquerte schließlich den Hof einer Kirche und trat in die enge Rue de la Parcheminerie. Joe stieg der Duft von frisch geröstetem Kaffee und Rauch und kochendem Fleisch und der durchdringende Geruch von schmorendem Knoblauch in die Nase, was bei ihm Magenknurren verursachte; gleichzeitig war ihm übel. In Nummer 29 war eine Buchhandlung, vor der sich Bücher in wildem Durcheinander stapelten, während noch viel mehr sich von innen an die Scheibe drückten und hinaussahen, als versuchten sie zu entkommen. Es gab einen Seiteneingang, durch den die junge Frau verschwand. Joe lehnte sich an die Mauer und beobachtete. Es war angenehm, an den Steinen zu lehnen. Die Rue de la Parcheminerie roch nach kochendem Essen, altem Papier und Staub. Nur wenige Leute gingen vorbei. Im zweiten Stock brannte Licht, aber die Vorhänge waren zugezogen. Fünf Minuten später kam die Frau wieder zur Tür heraus und ging die Straße hinunter davon. Joe trat an die Tür. Ein Namensschild gab es nicht. Er versuchte, die Tür zu öffnen, sie war jedoch verschlossen. Es gab eine kleine Gegensprechanlage und eine Klingel, und als er den Knopf drückte, hörte er die gereizte Stimme eines Mannes sagen: »Was ist denn noch, Marlene?« und dann einen Summton, und als Joe wieder gegen die Tür drückte, ging sie auf.
    Er stieg die Treppe hinauf. Das Treppenhaus war dunkel und modrig, und an den Wänden hatte sich feucht aussehendes Moos angesiedelt. Am oberen Treppenabsatz wurde eine Tür aufgeschoben, und als Joe sie erreichte, stand er endlich Aug’ in Aug’ seiner Jagdbeute gegenüber.

Der dicke Mann
    Die Beschreibung des Barkeepers war ziemlich genau gewesen, fand Joe. Ein blasser, dicker Mann, ein bisschen wie ein Champignon in Großaufnahme. Er trug ein wallendes weißes Gewand und einen dandyhaften Hut, seine Füße waren nackt, die Zehen prall und geschwollen. »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte er und schickte sich an, die Tür zuzuschieben, doch Joe war schon da, hielt dagegen und sagte: »Ich will nur reden.«
    »Klar«, erwiderte der dicke Mann mit halb zugekniffenen Augen. »Sie wollen alle nur reden.«
    »Bitte«, sagte Joe. Der dicke Mann betrachtete ihn und sagte: »Was ist Ihnen denn passiert?«
    »Ich glaube, ein paar Leute wollten nicht, dass ich Sie finde.«
    Plötzlich grinste der dicke Mann. »Und die haben Sie nicht überzeugt?«, sagte er.
    »Nein.«
    »Schade.«
    Doch er ließ die Tür los, trat zur Seite und forderte Joe mit einer Handbewegung auf einzutreten. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen.«
    »Das«, sagte Joe, »ist wirklich aufmerksam. Ich heiße Joe und bin Privatdetektiv.«
    Der dicke Mann lachte. »Ich wollte immer Privatdetektiv werden«, sagte er. »Setzen Sie sich. Scotch?«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, steuerte er auf einen kleinen Barschrank in einer Ecke zu. Joe sah sich um.
    Die Wohnung war voller Bücher. Ein alter Radioapparat stand unsicher auf einem Holzschrank. An den Wänden hingen Drucke, die Frauen in verschiedenen Stadien der Entkleidung zeigten. Die Mehrzahl der Bücher waren Taschenbücher. Wie gefallene Kameraden lagen sie überall, auf den beiden braunen Sesseln und dem runden Couchtisch vor ihnen, auf Regalen, in Stapeln auf dem Fußboden, in Kartons. Das Licht war gedämpft, und die Vorhänge aus dickem rotem Samt ließen nur wenig Tageslicht herein. In einer Ecke stand ein Doppelbett, die Laken zurückgeschlagen, darauf erschöpft weitere

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