Osama (German Edition)
gekämpft«, sagte der alte Mann. »Schäme mich nicht, das Wort auszusprechen. Ich kriege meins in Chinatown, witzigerweise. Aus Tradition.«
»Was können Sie mir empfehlen?«
Der Alte musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Hätte Sie nicht für einen Opiumesser gehalten«, sagte er. Joe zuckte die Schultern. Der alte Mann sagte: »Versuchen Sie’s bei Madam Seng in der Gerrard Street. Gute Atmosphäre, und ich liefere ihnen die Filme. Altes Schwarz-Weiß-Zeug.«
»Danke«, sagte Joe.
»Keine Ursache.« Der alte Mann betrachtete ihn immer noch voller Neugier. »Hab ich Sie schon mal gesehen?«, fragte er.
»Nein.«
Der Mann zuckte die Schultern. »Vielleicht jemanden wie Sie«, sagte er.
»Wie was?«, sagte Joe.
Wieder zuckte der Alte die Schultern. »Sie wissen schon. Einen Irrwirren.«
Einen Irrwirren ? Was zum –?
Joe nahm das Buch mit. Als er hinausging, klingelte wieder das Glöckchen, und die Katze in dem Schaukelstuhl machte ein Auge auf, nur um es gleich darauf wieder zuzuklappen.
Joe ging ein paar Schritte, lehnte sich an die Wand und betrachtete das Buch in seiner Hand. Irrwirre?
Er blätterte die Seiten durch.
Wir befinden uns im Krieg, und ich bin ein Soldat
Um 7.21 Uhr betraten vier Männer den Bahnhof Luton. Hassib Hussain trug dunkle Schuhe und Hose und war ohne Kopfbedeckung. Germaine Lindsay trug leuchtend weiße Turnschuhe und hatte eine Einkaufstasche bei sich. Mohammad Sidique Khan trug eine weiße Baseballkappe. Shezad Tanweer bildete das Schlusslicht. Alle vier hatten Rucksäcke aufgeschnallt.
Mohammad Sidique Khan war im St. James’s University Hospital in Leeds zur Welt gekommen. Sein Vater, Tika, war Metallgießer. Mohammad besuchte die South Leeds High School und später die Leeds Metropolitan University. Danach arbeitete er an der Hillside Primary School in Leeds als Mentor für die Kinder frisch eingewanderter Familien. Kollegen beschrieben ihn als einen »ruhigen Mann«. Er war verheiratet, eine Tochter. Zu dem Zeitpunkt, als er den Bahnhof Luton betrat, war seine Frau mit dem zweiten Kind schwanger. Sie hatte später eine Fehlgeburt.
In einem nach dem Ereignis gefundenen Filmsegment sagte Khan: »Unsere Worte haben keine Auswirkung auf euch, deshalb werde ich in einer Sprache, die ihr versteht, zu euch sprechen.« Er war dreißig Jahre alt. »Unsere Worte«, sagte er, »sind tot, bis wir ihnen mit unserem Blut Leben einhauchen.«
Hassib Hussain war achtzehn. Auch er hatte die South Leeds High School besucht, wo seine Lehrer ihn als »einen langsamen, freundlichen Riesen« bezeichneten. Er spielte gerne Cricket und war Mitglied der Footballmannschaft Holbeck Hornets.
Zusammen mit seinem Bruder lebte er im Colenso Mount Nr. 7, Holbeck, Leeds. Shezad Tanweer war zweiundzwanzig, Germaine Lindsay neunzehn. Zum Bahnhof fuhren sie in einem roten Nissan Micra, den Tanweer einige Tage zuvor gemietet hatte. Das Auto ließen sie auf einem Parkplatz am Bahnhof stehen. In Luton warteten sie beinahe eine halbe Stunde, ehe sie um 7.48 Uhr den Thameslink-Zug nach King’s Cross bestiegen. Dort kamen sie um zwanzig nach acht an. Eine halbe Stunde später würden drei von ihnen tot sein.
Die Hobbys von Toten
Joe blickte von dem Buch auf und atmete tief ein. Das war Irrsinn. Longshotts peinlich genauen Fakten und Zahlen schienen dazu gedacht, ihn in die Falle zu locken, ihn einzufangen: Namen, Zeiten, Straßen und Hausnummern, Hobbys von Toten. London. Irrwirre, dachte er und kicherte. Suchte er nach Longshott, oder suchte Longshott nach ihm? Der Schundromanautor hinterließ ihm eine Brosamenspur zum Folgen, und er folgte, während um ihn herum langsam die Welt zerfaserte, ein fadenscheiniger Wandteppich, der ihn nicht mehr vor der Kälte bewahren konnte. Ich könnte es wegwerfen, dachte er. Nicht weit entfernt gab es einen Abfalleimer. Ich könnte es wegwerfen und fortgehen, zurückgehen, und falls sie mir folgt, werde ich sagen …
Er hatte jedoch keine Ahnung, was er sagen würde. Er erinnerte sich an diese spitzen, anliegenden Ohren, das weiche braune Haar; etwas in ihren Augen, für das er keine Worte fand. Sie wirkte immer, dachte er, als hätte sie ihm noch mehr zu sagen.
War es das, worauf es hinauslief, überlegte er – ist es einfach, dass ich Angst habe, nein zu ihr zu sagen? Das alles, die Blutspur, der er folgte, die Schatten, die auf seinen Weg fielen, und dann zum Verstummen gebracht wurden, die Fragen, die er gar nicht beantwortet haben wollte: War das alles
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