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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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ihretwegen oder seinetwegen?
    Der Kopf tat ihm weh, und er lehnte sich an die alten Backsteine und schloss die Augen. Das Buch in seinen Händen fühlte sich schwer, unerwünscht an. Er stand auf, ging, bog nach links ab und fand einen Pub mit intakten Fenstern, lauter Musik und wenig Kundschaft. Er besorgte sich ein Glas Bier und trug es zu einem Tisch, der von ausgedrückten Zigaretten vernarbt war. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, nahm einen Schluck Bier und schlug von neuem das Buch auf.

Die Realität dieser Situation
    Die vier Männer trennten sich am Bahnhof King’s Cross. Massen drängten sich durch die Hallen und Gänge, Rolltreppen hinauf und hinunter, auf Bahnsteige, von Bahnsteigen hinunter, in Züge und aus Zügen hinaus. Ihre Rucksäcke waren voll mit selbst gemachten Sprengstoffen.
    Mohammad Sidique Khan nahm die Circle Line. Shezad Tanweer auch. Der eine fuhr nach Westen, der andere nach Osten. Germaine Lindsay stieg in die Piccadilly Line. Um 8.50 Uhr zündeten alle drei innerhalb von fünfzig Sekunden ihre Ladung.
    Hassib Hussain sollte eigentlich mit der Northern Line fahren. Stattdessen hatte er in der letzten Stunde seines Lebens erfahren, was jeder Londoner in- und auswendig wusste: Auf öffentliche Verkehrsmittel kann man sich nie verlassen.
    Die Northern Line war gesperrt.
    Unschlüssig, was er tun sollte, stieg der langsame, sanfte Riese nach oben. Vor einer Drogerie im Bahnhof King’s Cross blieb er stehen. Um 9.35 Uhr bestieg er den Bus der Linie 30 nach Hackney Wick. Der Bus war ein Dennis-Trident-2-Doppeldecker mit dem amtlichen Kennzeichen LX03BUF. Um 9.47 Uhr, als der Bus den Tavistock Square passierte, brachte Hussain die Bombe in seinem Rucksack zur Explosion. Er wurde später anhand der Überreste seines Schädels, seiner Kreditkarten und seines Führerscheins identifiziert.
    Das unterirdische London war eine Welt aus Rauch und Angst, verbogenem Metall und Knochenfragmenten, eine Welt aus Dunkelheit, Verzweiflung, Tod – und einem unbändigen Lebenswillen, so wie die Überlebenden kämpften, um aus den Tunneln zu entkommen. Fahrgäste, die bei dem Anschlag nicht ums Leben gekommen waren, mussten in vollgepackten, dunklen Waggons ausharren. Luft sickerte durch die zerschmetterten Glasscheiben herein. Fahrgäste sprachen miteinander, versuchten einander zu beruhigen. Hin und wieder ertönten Schreie. Sie konnten den Zug nicht verlassen, da die unter Spannung stehenden Gleise ihnen einen tödlichen Stromschlag versetzt hätten. Als sie schließlich ausstiegen, trotteten sie im Gänsemarsch durch die im Halbdunkel der Notbeleuchtung gespenstisch wirkenden Tunnel. Die Luft war voll mit Dreck, der sich einen Weg in die Lungen der Menschen bahnte und ihnen den Atem nahm. Als sie an den Stationen ankamen, wurden sie auf die Bahnsteige gehoben, wo sie sich zu anderen wie ihnen gesellten, schmutzigen, schwarz gewordenen, blutenden, hohläugigen Menschen, die sich noch nicht sicher waren, wirklich am Leben zu sein.
    »Ich und Tausende Gleichgesinnte geben für das, was wir glauben, alles auf«, sagte Mohammad Sidique Khan in seiner aufgezeichneten Stellungnahme. »Jetzt werdet auch ihr einen Geschmack von dieser Realität bekommen.«

Eine Graffitispur
    Der Kopf tat ihm weh – eine Schwärze hinter seinen Augen, Sternschnuppen. Er senkte den Blick und sah, dass sein Glas auf dem Tisch noch nahezu unberührt war. Er verspürte kein Verlangen zu trinken. Er hob die Hand und betrachtete seine Handfläche, die Linien in die Haut geätzt wie Wege, die ins Nirgendwo führten, die in Sackgassen endeten. Die Haut um seine Fingernägel war vom Nikotin gelb gefleckt. Unten am Daumenballen befand sich eine kleine Narbe, und er konnte sich nicht erinnern, wo er sie sich zugezogen hatte oder wie. Er verließ den Pub, ging hinaus und sog in einem tiefen Zug die feuchtwarme Londoner Luft ein. Was glaubten sie, dachte er. Was glaubte er? In seiner Situation konnte er keine Realität schmecken. Er setzte sich in Bewegung, starrte im Vorbeigehen die Wände an, wusste nicht, wohin er ging, kümmerte sich nicht darum, während die Dunkelheit hinter seinen Augen sich wie ein Herz ausdehnte und zusammenzog.
    Er folgte einer Graffitispur. In der Nähe eines Spirituosengeschäfts hatte jemand die Botschaft aufgesprüht: Vera Lynn hatte recht .
    Wieder 7/7 . 9/11 . 7/8 . 11/12 . Es war, als hätte man einen verrückt gewordenen Mathematiker mit unendlich vielen Spraydosen in der Stadt losgelassen.
    Wir sind

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