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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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»Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen?«
    Joe warf ihm eine Münze hin. Hamlet drehte sich um, verneigte sich kurz und setzte seinen Weg fort, wobei er sein Geplapper auf unerklärliche Weise in eine Tirade über Ophelia verwandelte.
    Joe war wieder beim Castle. Diesmal hielt er den Lieferanteneingang im Auge. Sein Kontingent an Zitaten hatte er für heute erfüllt. Er hätte früher anfangen sollen, war jedoch abgelenkt worden durch das Frühstück und den Mann vom KGG und das Gerede über Opium, das seine Verwirrung noch gesteigert hatte. Hatte Longshott irgendwie mit Arzneimitteln zu tun? Diesen Gedanken schlug er sich aus dem Kopf. Er wusste, dass der nächste Besuch des grauhaarigen Mannes sich als tödlich erweisen könnte; und er hatte nicht die Absicht, soweit er es überhaupt verhindern konnte, selbst den Toten darzustellen. Er ließ sich nieder, um stattdessen zu beobachten und zu warten.
    Um 9.45 Uhr kam, ganz außer Atem, eine sich verspätende Angestellte aus Richtung Leicester Square angerannt und verschwand durch den Lieferanteneingang, doch Joe konnte nicht genau erkennen, was die Tür öffnete – war es ein Schlüssel? Oder ein elektrischer Türöffner?
    Um 10.03 Uhr parkte ein Lieferwagen am Bordstein, kräftige Männer luden Kisten mit Tiefkühlkost aus. An der Tür erschien eine Frau, räumte ihren Platz für weitere Castle-Angestellte, die die Ware nach drinnen beförderten. Also eine Kamera? Und innerhalb des Gebäudes nur Angestellte – keine Lieferanten zugelassen. Interessant.
    Er konnte sogar gleichzeitig den Haupteingang im Auge behalten, doch es schien ein ruhiger Morgen zu sein. Um 10.22 Uhr endlich etwas Interessanteres als tiefgefrorene Hummer: eine einzelne Gestalt, die hinüberschlenderte, in der Hand eine braune Papiertüte – ein Junge, der sich am Lieferanteneingang des Castle unbekümmert nach rechts drehte und kurz vor der Tür stehen blieb. Die Tür ging auf. Dieselbe Frau stand im Eingang. Eine kurze Unterredung. Als der Junge wieder ging, hatte er die braune Papiertüte nicht mehr in der Hand. Der Junge hatte das schwarze Haar und die blasse Haut eines Han-Chinesen. Er wandte sich wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Joe folgte ihm in einer gewissen Entfernung.
    Er versuchte immer noch, sich einen Reim auf die Worte des grauhaarigen Mannes an ihn zu machen. De Quinceys Worte, um genau zu sein. Ein endgültiges Vergessen ist nicht möglich. War Erinnerung also die geheime Inschrift? Und worauf kam es bei einer geheimen Inschrift an? Er überlegte, ob er dabei war, etwas zu vergessen, fragte sich dann, woher er das wissen würde. Was er sicher wusste, war, dass er nach den Männern vom KGG Ausschau halten sollte. Nach den anderen auch, denen, die auf ihn geschossen hatten. Zuletzt hatten, wie es schien, beide Parteien beschlossen, stattdessen mit ihm zu reden. Er konnte nicht genau sagen, ob das eine Verbesserung war. Sie machten auf ihn nicht den Eindruck, als sprächen sie gerne viel. Diese Mühe würde sich wahrscheinlich keiner von ihnen noch einmal machen. Trotzdem verdienten sie hundert Punkte für die Anstrengung.
    Er folgte dem Jungen ein kleines Stück über die Shaftesbury Avenue und in die Gerrard Street. Hier befand sich das Herz der Londoner Chinatown. Die Schrift auf den Reklametafeln war in einem Englisch gehalten, das ein wenig nach chinesischen Schriftzeichen aussehen sollte. In den Restaurant fenstern hingen an Haken dunkelrot gebratene Enten. Hinter den Scheiben standen Hackmesser schwingende Köche und zerteilten die Kadaver von Hühnern und Schweinen. Überall hing der Duft von gebratenem Knoblauch, und von der für die Briten exotischsten Zutat, dem Ingwer. Es gab Obst- und Gemüsehändler, die Tamarinde, Lychees und Chinakohl verkauften. Reisebüros priesen die Wunder an, die einem auf einer Pauschalreise ins China der Kuomintang begegnen konnten. Überall hingen Bilder von Chiang Kai-shek. Selbst die roten Telefonzellen waren in Miniaturausgaben buddhistischer Tempel verwandelt worden, allerdings ohne die vielen Stufen.
    Der Junge bog links von der Gerrard Street ab, und Joe folgte ihm. Auf den Newport Place, wo mehrere Säulen aus dem Boden emporwuchsen, in ein verziertes Dach mündeten und eine offene Pagode bildeten, was ihn überraschte. Einen Moment lang kam er sich vor, als wäre er wieder in Vientiane, in seinem Büro mit Blick auf den schwarzen Stupa. Dann war es vorbei, und vor ihm stand nur eine grellbunte Pagode, die wie

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