Osama (German Edition)
gewesen. Einst hatten Gabeln selbst den Auslöser für einen heiligen Krieg geboten. »Gott in seiner Weisheit«, schrieb ein ungenanntes Mitglied der katholischen Kirche, »hat den Menschen mit natürlichen Gabeln ausgestattet – seinen Fingern. Daher ist es eine Beleidigung für ihn, sie beim Essen durch künstliche metallene Gabeln zu ersetzen.« Bei diesem Krieg ging es zwar nicht um Gabeln, aber der Anschlag wurde im Namen Gottes ausgeführt. Vier Flugzeuge waren gekidnappt und zum Absturz gebracht worden, zwei davon in die höchsten Gebäude der New Yorker City hinein.
Fast 3000 Menschen waren bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Darunter auch die neunzehn Entführer.
Zwei Jahre später wurde der Irak (zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts) überfallen, und sein Kalif, der jetzt Präsident hieß, gefangen genommen und später hingerichtet. Seinem Leben wurde in dem passend benannten Camp Justice in al-Kazimiyya, einem nordöstlichen Vorort von Bagdad, ein Ende gemacht. Seine Henkersmahlzeit bestand aus Huhn mit Reis, hinuntergespült mit heißem Wasser und Honig. Um sechs Uhr morgens wurde er mit einem Strick um den Hals getötet.
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation wurden in den ersten drei Jahren nach der Invasion des Irak 151000 Menschen der Zielbevölkerung getötet.
Sich schließende Türen
Er wollte nicht über den Tod nachdenken. Draußen vor dem Fenster hatte die Erde dunklem Himmel, der Himmel einer undurchdringlichen Wolkenschicht Platz gemacht und, jenseits davon, wich die Morgendämmerung jetzt leerer Nacht, durchsetzt mit winzigen Pünktchen kalten, fröstelnden Sternenlichts, wie Löcher im Baldachin einer Welt. Von London nach New York zu fliegen war eine Art Zeitreise, bei der man zurück in die Nacht raste. Das Buch in seinem Schoß war feucht. Das billige, minderwertige Papier, das bereits diesen schwachen Hauch von Fäulnis abgab. Die Rückenlehne seines Sitzes war hart. Die Kabine lag im Dunkel, Joes Leselampe die einzige, die noch brannte. Draußen drehte sich die Erde, langsam, unwiederbringlich, während sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durchs All raste. In der Kabine war das Abendessen serviert und abgeräumt worden, und der Geruch von aufgewärmtem Huhn, der noch in der Luft hing, mischte sich für Joe mit dem Geruch des Buchs. Wie die Hühnchen, so schien auch das Buch bereits tot, sein Text unnötigerweise aufgewärmt. Er versuchte sich auszumalen, was vor ihm lag, und stellte fest, dass er das nicht konnte. Er versuchte, sich die Stadt New York vorzustellen, doch sie erschien ihm wie eine Lücke in seinem Kopf, ein Ort auf der Landkarte, der als Markierung nur ein Loch hatte. Ihm wurde klar, dass er nicht mehr wusste, was wahr war und was nicht, wo die Realität endete und die Fiktion begann. Auf seinem Sitz fühlte er sich unwohl, drehte sich dauernd hier- und dorthin, versuchte zur Ruhe zu kommen, ohne Erfolg. Er legte das Buch beiseite, drängte sich an den Nachbarplätzen vorbei zum Gang und strebte dem erleuchteten Toilettenzeichen entgegen. Durch seine Socken hindurch spürte er den Boden des Flugzeugs, seine Zehen griffen nach der Fläche, als wäre sie fest, unveränderlich: Es waren nicht Flugzeuge, die er fürchtete, sondern der nahende Boden.
Er schloss sich in der Toilettenkabine ein. Fest eingebaute Kunststoffarmaturen, gedämpftes gelbes Licht: Sein Gesicht im Spiegel sah aus wie das eines Gespenstes, das ihn betrachtete. Er setzte sich hin, hoch über dem Meer. Als er die Wand vor sich anstarrte, sah er, dass jemand eine Nachricht auf die hellbraune Fläche gekritzelt hatte, fünf Zeilen, die Handschrift unregelmäßig, die schwarzen Buchstaben oben und unten über die Zeilen hinausgehend, das Ganze wie eine obszöne Grabinschrift, hinterlassen von einer unbekannten Person oder Personen, die nie bekannt sein würden, bekannt sein konnten.
Als Kind versuchte ich, zwischen die Tropfen zu treten. Jetzt schließe ich leise Türen –
Wie ein Fremder, der hereinspaziert gekommen war, verirrt, in sein eigenes Haus
Und dessen Bewohner nicht aufwecken möchte.
TEIL FÜNF
Flucht aus New York
Nichts zu verzollen
New York war ein stilles Feld von beleuchteten Schmetterlingen, zu zahlreich zum Zählen. Lichter erhoben sich in den Himmel, schwebten über der Küstenlinie, stellten die Sterne in den Schatten. Der Flugkapitän sagte: »Noch zwanzig Minuten bis zur Landung.« Den Blick durchs Fenster hinaus gerichtet, glaubte Joe, am Himmel noch
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