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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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andere Flugzeuge sehen zu können, die in einiger Entfernung voneinander kreisten, während sie auf die Landeerlaubnis warteten.
    In der gewaltigen Ankunftshalle des FDR verlor Joe für einen Moment die Orientierung. Hier gab es von allem zu viel. Zu viel Decke, zu hoch oben. Zu viele Stimmen, zu viele Leute, die aneinanderstießen wie zufällig umhertanzende Teilchen bei der Brown’schen Bewegung, Tausende individueller Geschichten, die sich nur für einen kurzen Moment überschnitten, sich berührten und zusammenflossen, um dann in eine andere Richtung auszulaufen. Der Boden war kalter, von zu vielen Schuhen verschrammter Marmor. Ein verborgenes Lautsprechersystem, das nie zu verstummen schien, rief Passagiere von oder nach Paris, Bangkok, Teheran, Moskau, Jerusalem, Peking, Beirut, Nairobi auf. In der Ankunftshalle spürte man diese Atmosphäre einer immensen Ungeduld, die mit dem Fuß wippte und sagte: Das ist das Tor der Welt, jetzt macht schon weiter, aber gesittet, bitte sehr.
    »Etwas zu verzollen?« Die junge Frau war hübsch in ihrer Uniform. Joe wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte gerne erklärt, dass er hier war, um ein globales Massenmordkomplott aufzudecken; oder vielleicht gesagt, dass er versuchte, einen Krieg zu verstehen, den niemand zu verstehen schien, nicht einmal diejenigen, die ihn am heftigsten führten; oder sich über die Geister ausgelassen, die, wenn sie glaubten, dass er nicht hinsah, immer wieder in seinem Augenwinkel aufflackerten. »Nein, nichts«, sagte er und lächelte sie zaghaft an, worauf sie ihn durchwinkte.
    Gepäck, das sich in einer komplizierten Schleife wälzte und drehte … eine braune Ledertasche; ein silberner Transportkoffer, wie Filmgangster sie für Bargeld benutzten; ein ramponierter schwarz-brauner Koffer mit sich lösenden Aufklebern auf dem großen Deckel, aus denen hervorging, dass seine Besitzer den Grand Canyon, Yellowstone Park, das Natural History Museum und Graceland besucht hatten. Rucksäcke mit Adressschildchen auf Kyrillisch. Pappkartons mit von oben nach unten verlaufenden chinesischen Schriftzeichen an den Seiten. Eine Ankunftstafel, deren Plättchen klappernd umschlugen: Phnom Penh, Damaskus, Reykjavík, Bagdad, Kuala Lumpur, Luzon, Kairo, Mexico City, Johannesburg, Rom, Kunming: alte Städte und neue, Städte auf Hügeln und in Ebenen, an Flüssen und Meeren, Punkte auf einer großen Landkarte, von denen jeder Fäden klaren Lichts aussandte, die alle hierherkamen, alle hier in diesem Terminal endeten, in dieser Stadt am Rand eines Kontinents, von wo aus Fäden in alle Richtungen verliefen, bis eine Kugel mit sich verflechtenden Lichtbändern bedeckt war …
    Draußen vor dem Terminal blieb er stehen, um sich einen Moment lang an die Wand zu lehnen und durchzuatmen, auch wenn er hauptsächlich den Geruch von Autos in der Nase hatte. Er zündete sich eine Zigarette an. Über seinem Kopf stiegen Flugzeuge in den Himmel. Die Erde unter ihm schien zu surren. FDR war Chrom und Glas und freudige Arroganz.
    »Hilf mir«, sagte jemand, und Joe schauderte einmal und war dann sehr still. Er konnte nicht genau sagen, wann es angefangen hatte. Ihm war, als hätte er schon am Londoner Flughafen ihre Anwesenheit gespürt. Schatten am Rand des Gesichtsfelds, verschwommene schweigende Gestalten, die ihn beobachteten, ihn verfolgten. Irrwirre . Als er im Flugzeug aus der Toilettenkabine kam, auf einem Platz, der zuvor leer gewesen war: eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, mit stummen, riesigen Augen – er konnte den Sitz durch sie hindurch sehen. Und auf dem Förderband am Flughafen lagen zwischen dem Gepäck Koffer und Taschen, die scheinbar niemandem gehörten, die endlos weiterkreisten, wie Flugzeuge, die nie die Landeerlaubnis bekommen würden …
    »Ich kann nicht«, sagte er. Er schaute nicht hin, wollte den Sprecher nicht sehen. Er zog an seiner Zigarette, hielt ein Taxi an und stieg ein.
    »Fahren Sie«, sagte er, und als der Fahrer ihn mit fragender Miene ansah, wiederholte Joe: »Fahren Sie einfach.«

Künstlicher Tag
    Lichter und Menschen und zu große Gebäude … Es war warm und dunkel in dem Taxi, und unerklärlicherweise roch es nach Anis, was einen darunterliegenden vertrauten Geruch überdeckte. Der Fahrer warf einen flüchtigen Blick zur Seite, sah das Taschenbuch in Joes Händen und machte ein finsteres Gesicht. »Mein Neffe hat dieses Buch«, sagte er. »Passen Sie mal auf. Mitten in der Stadt geht eine Bombe hoch, und die

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