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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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der Tür stand in großen, spitzen, handgeschriebenen Buchstaben Verkaufsraum . Er öffnete die Tür und trat ein.
    Tische waren so aufgestellt, dass sie sich an den Schmalseiten berührten. Es gab zwei Reihen. In dem Raum herrschte die halb fröhliche, halb weihevolle Atmosphäre eines sonntäglichen Wohltätigkeitsbasars. Joe ging an einer Reihe baumelnder T-Shirts vorbei. Eins zeigte zwei Türme und ein fliegendes Flugzeug; auf einem anderen starrte das inzwischen vertraute Gesicht von Osama bin Laden aus 100 Prozent Baumwolle heraus. Auf einem weiteren stand Ich , gefolgt von einem Herz, dann Osama . Ich Herz Osama . »Die gibt es in Schwarz, Blau, Rot und Weiß«, erklärte ihm eine Frau, als er an ihr vorbeikam. »M, L und XL.«
    Am Nachbartisch gab es Buttons mit denselben Motiven. Auf dem nächsten Tisch lagen Puppen. Zahlreiche Bin Ladens starrten Joe mit schwarzen Knopfaugen an, die weichen Plüschhände schlaff an der Seite herabhängend. Der nächste, Bücher: Titel von Medusa Press. Er nahm eins von Gräfin Szu Szus Büchern in die Hand, blätterte es gedankenverloren durch, legte es wieder hin.
    Auf dem nächsten Tisch Osama-Kissen. Ein Schild mit der Aufschrift Geh ins Bett mit dem Mann deiner Träume . Joe träumte jedoch nicht mehr.
    Was er suchte, fand er am Ende der Reihe. Ein einzelner Mann mit demselben ungepflegten Äußeren wie die anderen, die er in der Bar gesehen hatte, saß hinter einem nahezu leeren Tisch und schnitt sich auf umständliche Weise die Fingernägel. Als Joe näher kam, hob er den Blick. Auf seinem Namensschild stand Hi! Ich heiße Theo .
    »Hi«, sagte er. Dann wandte er sich wieder dem zu, was von seinen Nägeln übrig war.
    Joe nahm eine Schrift in die Hand.
    Die Osama-Gedichte.
    Von Theodore Moon .
    Als er das Deckblatt aufschlug, bemerkte er, dass es signiert war, mit blauer, über die Seite verschmierter Tinte. »Du?«, fragte er.
    Der Mann nickte, ohne aufzublicken, nannte einen Preis. Joe sah sich die erste Seite an.
    Menschen fallen herab wie Blätter im Herbst,
    Der Himmel ein Rauchschleier, glutrot.
    Ich sehe dich, am fernen Strand des Schlafes,
    An einem Ort, an den ich dir nicht folgen
    Und den ich niemals erreichen kann.
    Er legte das Buch wieder hin. Auf dem Tisch lagen ein paar billig gedruckte, klammergebundene Hefte, wässrig blaue Vervielfältigungen auf schmutzig weißem Papier. Er nahm eins. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit überkam ihn. Darin würde es keine Antworten geben.
    Die Osama-Gazette , Jahrgang 1, Nr. 3. Auf dem Titelblatt ein Mann mit einer Lupe, durch die Lupe eine Miniaturstadt, in Rauch gehüllt. Er sah sich die Inhaltsübersicht an. Öl und Ideologie in der Osama-Dichtung. Fiktive Kriege Nr. 2: Afghanistan. Terrorist, Freiheitskämpfer oder Soldat? Osama bin Laden als ein Mischwesen. Er wusste nicht einmal, was das bedeutete. Die zwanzigste Entführer-Hypothese.
    Legte es hin. Noch eine andere Schrift. Osamadichtung-Geschichten . Vorne drauf ein Mann mit einem tragbaren Granatwerfer, der sich hinter Felsen versteckt, oben in den Bergen, über ihm ein Hubschrauber. Die fünfte Ebene, von Theodore Moon. Liebe in der Wüste, von Vivian Johnson . Ein Anliegen, für das es sich zu sterben lohnt, von L. L. Norton .
    »Kaufst du, oder liest du sie nur hier?«
    Joe legte das dünne Bändchen wieder hin. »Ich blättere nur so rum«, sagte er und wischte sich verstohlen die Hand an der Seite ab. Er wandte sich zum Gehen. Hier gab es keine Antworten. Er machte die Tür auf und trat wieder in den Korridor, und als er ihn hinunterging, konnte er sie nicht mehr ignorieren, konnte nicht mehr so tun, als wären sie nicht da.
    Die Antworten waren da, waren immer da gewesen, warteten nur darauf, dass er sich ihnen endlich stellte.
    Die Flüchtlinge säumten den stillen Korridor. Es waren Männer und Frauen und Kinder, und sie hatten die Farben von Schatten und Dämmerung. Sie starrten ihn an, und ihre Lippen bewegten sich, ohne dass ein Laut entwich. Er fühlte sein Herz zittern wie ein kranker Vogel, der an den Gitterstäben seines Körpers zerrte. Er ging den Korridor entlang, und sie teilten sich vor ihm, wie Blätter im Herbst. Sie waren viele. Zu viele. Er drehte den Kopf, nach links, nach rechts, und sie erwiderten mit leeren Gesichtern seinen Blick.
    Nur eins war vertraut. Er hielt inne, schaute. Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, graues Haar – »Scheiße.« Er machte auf dem Absatz kehrt, um loszurennen, doch er konnte nirgendwo mehr hinlaufen. Eine

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