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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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vom Gesicht des Mannes. Es sah aus, als hätte es soeben seine sieben Sachen gepackt und wäre für den Winter ausgezogen. Und würde so bald nicht wieder zurückkommen.
    »Wie gefällt’s Ihnen?«, fragte der Mann mit einer Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. Neben dem Waschbecken und der Toilette standen der Stuhl, an den man Joe gefesselt hatte, und ein schmales Bett mit einer grauen Decke und einem Kopfkissen von der Form eines Ziegels und der Farbe eines Bimssteins.
    »Hab Schlimmeres gesehen«, sagte Joe. »Von der Geschäftsleitung halte ich allerdings nicht viel.«
    »Man gewöhnt sich dran«, sagte der Mann.
    Joe zuckte die Achseln.
    »Ich hab Sie gewarnt«, sagte der Grauhaarige. In seiner Stimme lag ein fast entschuldigender Ton; es hätte aber auch eine nahende Erkältung sein können.
    »So was von wegen Türen nicht öffnen, stimmt’s?«, sagte Joe.
    Jetzt war es an dem Mann, die Achseln zu zucken. »Der Zug ist abgefahren«, sagte er.
    Joe setzte sich auf die Bettkante. Die dünne Matratze fühlte sich an wie ein Holzbrett. Er ließ ein wenig Rauch entweichen, klopfte Asche auf den Boden. »Was ist das KGG?«, fragte er.
    »Ein Komitee«, sagte der Mann.
    »Ein Komitee«, sagte Joe.
    »Ja.«
    »Verstehe.« Was er nicht tat.
    »Es ist ein überparteiliches Komitee für Gegenwärtige Gefahr …«, die Anfangsbuchstaben wogen so schwer wie Blei. »Es wurde eingerichtet, um die klare und gegenwärtige Gefahr für den Frieden unseres Landes zu erkennen und zu bekämpfen.«
    »Was, wenn es gar keine gibt?«, fragte Joe. Der Mann vom KGG schüttelte den Kopf. »Es gibt immer klare und gegenwärtige Gefahr«, sagte er. »Und im Augenblick sind Sie es.«
    »Ich? Ich bin nur ein Mann.«
    »John Wilkes Booth war nur ein Mann«, sagte der Grauhaarige. »Aber nein, nicht Sie speziell. Sie, im Plural.«
    Joes Zigarette war ganz heruntergebrannt. Es ließ sie auf den Boden fallen. Ein Ausdruck des Widerwillens huschte über das Gesicht des Mannes. »Flüchtlinge«, sagte er. »Irrwirre. Geister. Was auch immer.« Er sah Joe unverwandt an. »Sie sollten nicht hier sein«, sagte er. »Sie hätten nicht herkommen sollen.«
    Wieder herrschte Stille zwischen ihnen, ein flaches Trampolin, auf das nur das geringste Gewicht fallen musste, um seine vollkommene Reglosigkeit zu stören. Der Mann vom KGG sagte: »Sie gehören nicht hier hin.«
    Joe setzte sich richtig auf das Bett, den Rücken an die Wand gelehnt. Durch halb geschlossene Augenlider betrachtete er den Mann vom KGG. Die Wörter schienen von ganz weit unten, aus seinem tiefsten Inneren zu kommen. »Vielleicht können wir sonst nirgends hingehen«, sagte er.
    »Tut mir leid«, sagte der Mann vom KGG. »Wirklich.«
    »Mir auch«, sagte Joe. Es fühlte sich an, als spräche er in eine weite, leere Schlucht, mit Worten, die wie Papierfetzen ins Nichts hinabfielen.
    Der Mann vom KGG nickte einmal. Dann verließ er die Zelle und schloss die Tür hinter sich. Joe hörte, wie Schlösser einrasteten.
    Dann herrschte nur noch einsame Stille.

Zelle
    Zeit existierte hier nicht. Zweimal am Tag öffnete sich ein Gitter in der Tür, und ein Tablett wurde hindurchgeschoben. Das Tablett war aus Metall, mit drei Vertiefungen, die zusammen ein Kreuz bildeten. Es gab Essen auf dem Tablett und Wasser im Waschbecken. Der Gefangene trank das Wasser und wusch sich damit, indem er es sich, als wäre er ein Mann bei einem langen Zwischenstopp auf einem Flughafen, in die Achselhöhlen und übers Gesicht spritzte. Das Essen hatte einen chemischen Nachgeschmack. Wenn er die Toilette benutzt hatte, stank es in der Zelle. Nach einer Weile bemerkte der Gefangene den Gestank nicht mehr.
    Seine Gedanken in dieser Zeit einsamer Gefangenschaft waren eigentlich keine Gedanken. Sie waren Fragmente, wie Teile eines Puzzles, das aus durcheinandergemischten zerrissenen Fotos bestand. Nie schien etwas zusammenzupassen. Es waren Erinnerungen dabei, doch er wusste nicht mehr, welche real gewesen waren und welche nicht. Zum Beispiel gab es da einen Mann mit einem Kastorhut, der mit einer Laterne in der Hand herumschlich. Dialogfetzen aus dem Zwischentitel eines Stummfilms, die, leuchtend weiß, über einen schwarzen Bildschirm flimmerten: Sie meinen, ein Geist?
    Kein Geist. Schlimmer …
    Da war eine junge Frau mit leicht schräg gestellten Augen, braunem Haar und anliegenden spitzen Ohren, aber ohne Namen. Ein Flughafen, Nebel, ein Flugzeug, das auf seinen Start wartete. Es waren keine richtigen

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