Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
Vom Netzwerk:
schlüpften wir in unsere Montur, und als wir hinunterfuhren, sagte der Junge auf dem Rücksitz – der Neuling –, es sei ein Anschlag gewesen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was es war. Ich glaube, so genau wusste es niemand. Als wir bei dem Gebäude ankamen und den Blick nach oben richteten, waren es, ähm – winkende Arme und Beine –, Leute, die sprangen. Im Foyer gab es viel Rauch, viele Schäden. Es … es gab eine Menge, die sprangen. Wir stürmten in das Gebäude, begannen die Treppen hinaufzusteigen. Hintereinander. Nach einem Dutzend Stockwerken fingen wir an, Pausen zu machen, alle vier. Vier Etagen. Wir schafften es bis zur – zur dreiunddreißigsten, vierunddreißigsten Etage. Da kamen uns auf der Treppe Menschen entgegen, halfen sich gegenseitig hinunter, Verletzungen allenthalben – die Hände auf die Knie gestützt, sog ich Luft ein, gerade besprachen wir, ob wir einen weiteren Trupp dort heraufbeordern sollten, und die ganze Zeit ging ein Pochen durch das Gebäude, so wie das stärker werdende Geräusch eines Zuges, der sich dem Bahnsteig näherte. Dann kam eine Stimme über Funk, die sagte: »Lasst alles stehen und liegen und dann raus aus dem Gebäude!« Das sagte sie zwei Mal. Wir waren auf dem Weg nach draußen, da gab es – ich weiß nicht, wie ich diesen Lärm beschreiben soll –, die Decke stürzte ein, und ich weiß noch, dass ich aufblickte. Das weiß ich noch. Dass ich aufblickte und plötzlich überhaupt nichts mehr sah.
    ***
    Es waren noch drei Tage bis zur Wahl, das stand an diesem Morgen in der Zeitung, und auf dem Weg zum Bahnhof machte ich halt, um noch einen cortado mit wenig Milch zu trinken und dabei die Zeitung durchzublättern. Es sah aus, als würde es ein schöner Tag werden. Morgen ist schon Freitag, dachte ich gerade. Ich bekam die cercanías mehr oder minder zu meiner üblichen Zeit. Ich fuhr nach Atocha, musste dort umsteigen. Obwohl die Bahn voll war, was sie zur Hauptverkehrszeit immer ist, bekam ich noch einen Platz und las Zeitung, ohne meinen Mitreisenden besondere Aufmerksamkeit zu schenken. An diesem Abend würde ich meine Frau zum Essen ausführen, es war unser Hochzeitstag, und beim Durchsehen der Restaurantlisten versuchte ich, ein gutes Restaurant zu finden und zu entscheiden, welche Art von Essen wir bestellen sollten. Das ist in meiner Erinnerung das Letzte, woran ich dachte: was ich an diesem Abend zusammen mit meiner Frau essen wollte.
    ***
    Es hob mich hoch, und ich flog durch die Luft. Ich prallte gegen eine Mauer. Ich erinnere mich, dass ich – wie absurd – an Indianer dachte. Wie in den Western. Indianer mit Kriegsbemalung im Gesicht. Ich … ich berührte mein Gesicht, aber mein Kiefer war weg. Ich hörte eine Amerikanerin sagen: »Bitte helfen Sie, bitte helfen Sie meinen Kindern« und eine andere Frau rufen: »George, kannst du mir helfen?« Ich wusste nicht, wer George war. Da lag … da lag eine Hand auf dem Fußboden. Nur eine Hand. Mit einem Ring am Ringfinger. Ich versuchte, mich zu bewegen, merkte jedoch, dass ich es nicht konnte. Etwas hielt mich fest. Ich konnte Leute hören, doch das schien alles von weit weg zu kommen. Ich … ich wurde sehr durstig. Am Anfang empfand ich den Schmerz nicht, vermutlich stand ich unter Schock, aber allmählich beschlich er mich, und dann schrie ich auch, aber ich weiß nicht, ob irgendjemand mich hörte. Ich erinnere mich, wie ich geschrien habe. Es wurde sehr dunkel. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Dann waren da Männer, die mir etwas zuriefen, mir sagten, ich solle durchhalten, und ich konnte sie hören, und ich versuchte zu antworten, aber ich weiß nicht, ob ich zu dem Zeitpunkt sprechen konnte. Ich hörte, wie sie jemanden herauszogen, und sie war am Leben. Ich weiß noch, dass ich mich darüber richtig gefreut habe. Dann war da nicht mehr viel Schmerz, und nach und nach verhallten all die Stimmen. Dann war überhaupt kein Schmerz mehr da. Ich erinnere mich, dass ich froh darüber war.
    ***
    Der Schmerz … der Schmerz war wie ein kochendes Meer auf meiner Haut. Mir war nicht klar, dass ich so viel Haut hatte. Mir war nicht klar, dass es so wehtun konnte. Ich schrie, flehte sie an, mich zu töten. Flammen verzehrten mein Fleisch, verzehrten mich. Ich konnte nicht sehen. Ich flehte sie immer nur an, mich zu töten. Dann konnte ich nicht einmal mehr denken, nicht in Worten, da war nur Schmerz, eine Art von Folter, der ich keinen Einhalt gebieten konnte, ich konnte ihr keinen

Weitere Kostenlose Bücher