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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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Belanglosigkeit ihnen zu gefallen schien. Dahinter sah ich auf einem Fensterbrett die Silhouette einer Katze, die hinausblickte. Oscar hatte ein ruhiges Plätzchen gefunden, um den Tag zu verträumen. Offenbar waren heute auf der zweiten Etage keine dramatischen Entwicklungen zu erwarten.
    Marys Stimme weckte mich aus meinen Gedanken.
    »Dr.Dosa, jetzt geht es um Mr.Grant. Das ist der Patient, den Sie sich anschauen sollten.«
    Ich wandte mich der Gruppe zu, worauf Mary ihren Bericht fortsetzte. »Bei Mr.Grant entsteht wieder ein Druckgeschwür. Wir wechseln zweimal täglich den Verband, und es sieht einigermaßen gut aus. Bitte sorgen Sie dafür, ihn oft genug umzulagern. Er ist jetzt ständig ans Bett gefesselt, also müssen wir wirklich aufpassen, dass es mit dem Geschwür nicht schlimmer wird.«
    Zu mir gewandt, fügte sie hinzu: »Ich muss den Verband noch einmal wechseln, bevor ich nach Hause gehe. Könnten Sie mitkommen, um festzustellen, ob wir noch irgendetwas anderes unternehmen sollten?«
    Ich nickte. »Gern.«
    »Abschließend noch ein Wort zu Ruth Rubenstein«, sagte Mary. »In den letzten Wochen hat sie sich wirklich erholt. Sie kann wieder gehen und hat deutlich zugenommen. Wie Sie wissen, ist auch die Verwirrung zurückgegangen, und die Physiotherapie schlägt an. Übrigens, Frank war gerade hier und hat um ein wenig Privatsphäre gebeten. Bitte kümmern Sie sich darum, dass Ruths Zimmernachbarin sich so lange im Gemeinschaftsbereich aufhält. Ich glaube, heute ist der Hochzeitstag der Rubensteins, und da will Frank mit seiner Frau allein sein.«
    Als Mary das Wort »Privatsphäre« aussprach, tauschten zwei Helferinnen wissende Blicke und kicherten. Solche Bitten sind nicht ungewöhnlich, aber manchmal verhalten die Mitarbeiter sich dennoch wie Schulkinder, die etwas Verbotenes beobachten. Mary warf den beiden einen scharfen Blick zu, worauf sie sich zusammennahmen.
    Als ich mit Mary wieder allein war, schüttelte sie ärgerlich den Kopf. »Wieso finden die es eigentlich so komisch, dass die Rubensteins ein wenig allein sein wollen? Schließlich sind sie verheiratet. Bloß weil Ruth jetzt hier bei uns im Heim lebt, heißt das noch lange nicht, dass die beiden keine Bedürfnisse mehr hätten.«
    »Ist sogar ganz natürlich«, sagte ich.
    Mary sah mich an. »Übrigens, ein anderer Patient verbringt neuerdings viel Zeit in Ruths Zimmer. Was Ruth keineswegs zu stören scheint.«
    »Das wird Frank aber gar nicht freuen«, kommentierte ich.
    »Wahrscheinlich müssen wir es ihm irgendwann mal sagen.«
    »Hoffentlich bin ich dann gerade nicht in der Nähe«, sagte ich, was nur halb scherzhaft gemeint war.
    Mary zuckte die Achseln. »Jetzt muss ich aber wirklich bald nach Hause. Schauen wir uns doch vorher kurz das Druckgeschwür an.«
    Als wir den Flur entlanggingen, hörten wir plötzlich einen schrillen, anhaltenden Schrei. Ruth Rubenstein stürmte aus ihrem Zimmer und hastete an uns vorbei. Auf ihrem Gesicht stand blankes Entsetzen.
    Im nächsten Augenblick trat Frank aus der Tür. Als er Mary und mich sah, blieb er stehen.
    »Dr.Dosa, ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er mit gequälter Miene.
    Während Mary sich auf die Suche nach Ruth machte, ging ich mit ihm zurück ins Zimmer, wo wir uns neben-einander auf Ruths Bettkante setzten. Frank sah mich an. In seinen Augen standen Tränen.
    »Dr.Dosa, ich muss Ihnen erzählen, was heute geschehen ist, aber zuerst sollen Sie ein wenig mehr über uns beide erfahren«, begann er.
    »Gern«, sagte ich.
    »Wir haben kurz nach dem Krieg geheiratet. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist, aber wir haben uns in einem Konzentrationslager kennengelernt.« Er sah mich an, um meine Reaktion zu beobachten.
    »Nein, das wusste ich nicht«, sagte ich.
    »Mein Gott, wie gut ich mich noch daran erinnere! Es war der 30 . Oktober 1943 . Da war ich schon einige Monate im Lager.«
    Frank schwieg einen Moment, ganz in seine Erinnerungen versunken. Eine volle Minute verging, bevor er weitersprach. Nun klang seine Stimme leise und unsicher.
    »Es heißt, wenn man älter wird, würde man vieles vergessen, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, ich erinnere mich täglich immer lebhafter an die Vergangenheit. In mancher Hinsicht beneide ich meine Frau; die weiß überhaupt nichts mehr von alledem, aber ich lebe ständig mit den Erinnerungen. Nachts träume ich davon: von der Erniedrigung, dem ganzen Leiden …«
    Er blickte zu Boden, bevor er fortfuhr. Inzwischen war sein

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