Oscar
nahen spürte, bevor wir mit all unserer Fachkenntnis Bescheid wussten? Vielleicht hatte er einfach eine unglaubliche Einfühlungsgabe, gepaart mit einer intuitiven Fürsorglichkeit.
Was Mary wohl dazu zu sagen hatte?
»Ich habe darüber nachgedacht, was Sie mir neulich mal gesagt haben – dass Oscar einundvierzig Familienmitglieder hat und immer bei dem bleibt, dem es nicht gut geht.«
Es war kurz vor drei Uhr nachmittags, als ich mit Mary im Stationszimmer saß. Um drei war Dienstwechsel, und bevor das Personal zur Besprechung kam, wollte ich mich kurz mit ihr austauschen. Die Sorgen über die finanzielle Situation des Heims, die unser letztes Gespräch dominiert hatten, waren in den Hintergrund getreten, und Mary sah ruhig und gelassen aus.
»Ach, David, das ist doch bloß eine Theorie«, sagte sie abwehrend. »Im Grunde habe ich keine Ahnung. Sie wissen ja, ich mag Tiere einfach unheimlich gern. Da bin ich nicht gerade objektiv.«
»Objektivität hat ihre Grenzen«, sagte ich. »Zum Beispiel hatte ich anfangs so meine Zweifel, was Oscar angeht. Ehrlich gesagt, dachte ich sogar, ihr wärt alle ein wenig übergeschnappt.«
»So ganz falsch ist das ja auch nicht«, sagte Mary grinsend. »Schließlich steht auf dem Schild da drüben:
Man muss nicht übergeschnappt sein, um hier zu arbeiten, aber es hilft!
«
»Aber nun finde ich, dass Oscar etwas sehr Sinnvolles tut«, fuhr ich ungerührt fort. »Einerseits hilft er den Patienten – als Mitgliedern seiner Familie, wie Sie es ausgedrückt haben –, und andererseits hat er auch eine positive Wirkung auf deren Angehörige. Die leiden ja wahrscheinlich am meisten.«
»Uns vom Personal lässt das, was geschieht, bekanntlich auch nicht kalt«, sagte Mary. »Schließlich kann man nicht hier arbeiten, ohne sehr direkt am Leben der Patienten teilzunehmen. In ihrer letzten Zeit haben wir oft eine ebenso enge Beziehung zu diesen Menschen wie deren eigene Angehörige, und wenn sie sterben, trauern wir auch.«
»Hilft es eigentlich, wenn man schon so viele gesehen hat, die an Alzheimer gestorben sind?«, fragte ich. »Wird es dadurch ein wenig leichter?«
Mary dachte einen Augenblick nach. »Man kann dadurch leichter verstehen, was man erlebt«, antwortete sie schließlich, »aber nicht, warum es geschieht. Die Fragen bleiben: Warum wird jemand von so einer Krankheit heimgesucht? Warum lässt Gott so etwas zu?«
Obwohl wir selten auf religiöse Themen zu sprechen kamen, ergriff ich die Gelegenheit, um nachzufragen: »Beten Sie eigentlich, Mary? Ich meine – haben Sie Gott diese Frage gestellt?«
Sie lächelte, wich jedoch aus. »Ich glaube nicht, dass er gleich eine Antwort geben würde«, sagte sie.
Nein, dachte ich, in der Hinsicht verhält er sich wohl nicht kommunikativer als eine Katze
.
»Erinnern Sie sich noch, was ich neulich über Haustiere gesagt habe?«, fuhr sie fort. »Am Anfang hat man sie gehalten, weil sie einen Zweck hatten. Anders gesagt, sie haben gearbeitet, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Hund beispielsweise hat Schafe gehütet oder den Hof bewacht; und wenn eine Katze nicht genügend Mäuse gejagt hat, dann bekam sie nichts zu fressen.«
»Sie meinen also, es ist Oscars Job, sich um die Menschen hier zu kümmern?«
Mary breitete die Hände aus. »Wieso nicht? Vielleicht ist er nur höher entwickelt als unsere anderen Katzen, und das ist seine Methode, um die Miete zu bezahlen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Im Grunde sind wir ja alle nur Gäste hier.«
Im selben Augenblick ging die Tür am Ende des Flurs auf, und das Personal der Abendschicht kam herein.
Mary erhob sich. »So, jetzt geht es wieder an die Arbeit«, sagte sie. »Bleiben Sie noch ein wenig da?«
Ich zuckte die Achseln.
»Da ist nämlich noch ein Patient, den Sie sich anschauen sollten. Die Besprechung dauert nicht lange.«
Wenig später stand Mary an der Tür, um die neue Mannschaft, eine Krankenschwester und vier Helferinnen, über die Ereignisse des Tages zu informieren. Dabei ging es darum, worauf zu achten war und welche Patienten besonderer Aufmerksamkeit bedurften. Ich stellte mich neben eine der Helferinnen, um zuzuhören.
»Im Westflur«, begann Mary, »gibt es mehrere Probleme. Offenbar ist Mrs.Carey in Nummer 321 …«
Während sie fortfuhr, schweifte mein Blick ab. Ein Stück weit entfernt saßen einige Patienten im Flur vor dem Fernseher. Zu dieser Tageszeit lief wahrscheinlich eine Seifenoper, deren theatralische
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