Oscar
osteuropäischer Akzent viel deutlicher geworden, und auch die Satzmelodie klang anders. »An den Moment, in dem ich Ruth zum ersten Mal sah, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Sie war gerade erst im Lager angekommen und trug ein braunes, zerknittertes Kleid. Ihr Mantel sah neu aus, war vom Transport im Zug aber ganz schmutzig geworden. Sie schleppte einen schweren Koffer durch den Dreck. Mir ist gleich ihr langes, dunkles Haar aufgefallen. Es war zerzaust und ungewaschen, aber dennoch wunderschön. Aus irgendeinem Grund trafen sich unsere Blicke. Doktor, sie hatte die wunderbarsten Augen, die ich je gesehen hatte, und vor allem: In diesen Augen stand keinerlei Furcht. Obwohl sie gerade an diesem grässlichen Ort angekommen war, sah man ihr an, dass sie fest entschlossen war, zu überleben!«
Frank blickte mich an. Ein schwaches Lächeln war auf sein Gesicht getreten.
»Da habe ich mich Hals über Kopf in sie verliebt. Ich musste sie einfach kennenlernen. Also bin ich auf sie zugegangen und habe gefragt, ob ich ihr den Koffer tragen soll.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hat mich abgewiesen, aber ich habe ständig an sie gedacht. Es hat Wochen gedauert, bis wir uns wiedersahen. Angesichts unserer Lage hört sich das wahrscheinlich völlig irre an, aber ich kann Ihnen sagen, Doktor, es war der glücklichste Tag meines Lebens. Von da an waren wir unzertrennlich. Neun Monate lang blieben wir zusammen, dann hieß es plötzlich, wir würden woandershin transportiert, aber in verschiedene Lager. Bevor wir getrennt wurden, haben wir uns versprochen, uns zu suchen, wenn der Krieg vorüber war. Sogar einen Treffpunkt haben wir vereinbart, ein bekanntes Gebäude in meiner Heimatstadt. Bevor wir uns tatsächlich wiederfanden, wusste keiner von uns, ob der andere überlebt hatte.«
»Mr.Rubenstein«, unterbrach ich ihn, »was Sie da durchgemacht haben, ist …«
Er hob die Hand. »Dr.Dosa, heute ist es genau dreiundsechzig Jahre her, dass wir uns dort auf dem Hof des Lagers in die Augen geblickt haben«, sagte er und machte eine kleine Pause. »Und zum ersten Mal seit jenem Tag weiß Ruth nicht mehr, wer ich bin.« Bei den letzten Worten strömten ihm Tränen über die Wangen. Ich sah ihn schweigend an, unsicher, ob ich etwas erwidern sollte.
»Als wir in die Staaten kamen«, fuhr er fort, »hatten wir kaum Geld. Wir hatten nur einander. Nicht einmal Englisch konnten wir. Ruth ging in einem Krankenhaus putzen, während ich tagsüber einen Sprachkurs besucht habe. Abends sind wir in New York herumgegangen und haben uns die Schaufenster angeschaut. Dann gingen wir zurück in unsere winzige Wohnung und legten uns zusammen nieder. Das konnten wir uns leisten!«
Er breitete die Arme aus.
»Nach einer Weile hat unsere Lage sich gebessert. Mein Englisch wurde so anständig, dass ich eine Stelle als Labor-assistent bekam. Ruth hat als Kindermädchen für ein reiches Ehepaar gearbeitet. Die beiden Kinder hatte sie sehr gern. Wir selbst konnten leider keine Kinder bekommen.«
Frank brach wieder in Tränen aus.
»Wie schade«, sagte ich.
Er nahm meine Reaktion mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, bevor er fortfuhr. »Leicht hatten wir es nie, aber wir sind durchgekommen. Dann ging es aufwärts. Ich habe mich wieder auf der Universität eingeschrieben und meine Doktorarbeit vollendet. Das erste gute Stellenangebot kam aus Neuengland, und seither sind wir hier.«
Ich sah Frank forschend an, weil ich nicht recht wusste, wohin das führen sollte. Offenbar merkte er, dass er das Ziel aus den Augen verloren hatte, denn er unterbrach sich und hob den Kopf.
»Heute, zu unserem Jahrestag, habe ich ihr ein Dutzend rote Rosen und ein Stück von ihrem Lieblingskuchen mitgebracht, aus dieser exzellenten Konditorei in der Innenstadt.«
Aus dem Augenwinkel sah ich die ungeöffnete Kuchenschachtel neben einer Vase voller Rosen auf dem Nachttisch stehen.
»Ich trat ins Zimmer und habe ihr alles Gute zum Jahrestag gewünscht, wie schon so oft vorher. Dann habe ich mich aufs Bett gesetzt und zu ihr gebeugt, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.«
Er ließ den Kopf sinken. »Aber in ihren Augen sah ich nichts als Schrecken. Dr.Dosa, ich war ein Fremder für sie. Und dann hat sie losgeschrien …«
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Ich wusste gar nicht, was ich tun soll«, fuhr er fort. »Als ich versucht habe, sie trotzdem zu küssen, hat sie bloß weitergeschrien. Ich hab die Hand gehoben, um sie zu trösten, und da
Weitere Kostenlose Bücher