Oscar
oder weinen sollte.
»Ja«, fuhr sie fort, »und nun wurde mir klar, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich
keine
Schuldgefühle mehr hatte. Aber in Wahrheit kam mir der Tod meiner Mutter wie ein natürliches Ende ihres Leidens vor. Wie kann ich bloß so etwas denken, habe ich mich gefragt, und um Trost zu finden, habe ich den Rosenkranz meiner Mutter vom Nachttisch genommen und laut das Vaterunser gebetet.
Als ich fertig war, habe ich mich zurückgelehnt. Plötzlich fühlte ich mich sehr müde und spürte zum ersten Mal in dieser Nacht den starken Wunsch, nach Hause zu gehen. Da entfuhr mir ein Stoßgebet: ›Bitte, Herr, nimm sie einfach zu dir!‹
Ich schloss einen Moment die Augen, und da haben mich uralte Erinnerungen an meine Mutter überflutet. Es waren sehr tröstliche Erinnerungen, die mich fast in den Schlaf zogen.
Da schreckte ich plötzlich auf und registrierte, dass außer dem gewohnten Geräusch des Sauerstoffgeräts nichts zu hören war. Als ich zum Bett blickte, sah ich, dass meine Mutter nicht mehr atmete. Zum ersten Mal seit Tagen sah sie friedlich aus.
Unwillkürlich habe ich auf meine Armbanduhr geschaut. Es war drei Uhr morgens.
Einige Minuten später kam eine Schwester; sie hörte meine Mutter mit dem Stethoskop ab und bestätigte, was ich bereits wusste. Sie drückte mir ihr Beileid aus und ging wieder, um die nötigen Telefonanrufe zu machen. Eine Weile saß ich ganz still auf dem Stuhl und habe meine Mutter betrachtet. Obwohl ich wusste, dass sie tot war, habe ich auf irgendeine Bewegung gewartet. Irgendwann bin ich dann aufgestanden und zu ihr hingegangen, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, und ich sagte ihr, dass ihr geliebter Mann nun auf sie warten würde. Als ich das tat, habe ich sofort eine unglaubliche Erleichterung verspürt, so als wären wir beide endlich frei.«
Cyndys Miene hellte sich auf. »Nach einiger Zeit habe ich das Zimmer verlassen, um mir einen Becher Kaffee zu besorgen. Dazu, meine Geschwister anzurufen, war ich noch nicht ganz bereit; erst musste ich aufwachen. Ich weiß noch, dass es auf der Station unheimlich still war. Als ich durch den Flur ging, hörte ich ein leises Tappen auf dem Boden. Ich blickte nach unten und sah Oscar neben mir gehen.«
Das Bild stand mir sofort vor Augen.
»Also hat er Sie tatsächlich drei Wochen lang begleitet?«, fragte ich.
Cyndy nickte, und ein Staunen trat auf ihr Gesicht. Diesen Ausdruck hatte ich bei allen gesehen, die mir von Oscar berichtet hatten.
»In dieser Nacht sogar besonders intensiv«, sagte sie. »Ich weiß noch, wie ich auf die Toilette ging, um mir das Gesicht zu waschen. Als ich herauskam, wartete Oscar an der Tür auf mich. Und dann, als ich mit meinem Becher Kaffee in der Küche saß und überlegte, wen ich anrufen musste, da hat er sich auf den Stuhl neben mich gehockt und mich beäugt. Es war, als wollte er sich vergewissern, dass ich mit allem zurechtkam.«
Nun strahlte Cyndy richtig. »Wissen Sie, während der ganzen Zeit sind die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, immer gekommen und gegangen. Oscar aber ist geblieben. Er war wirklich für mich da. Ihn habe ich als Letzten gesehen, als ich die Abteilung verließ. Er saß auf dem Tisch des Stationszimmers und schaute mir nach.«
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Ich liebe Katzen, weil ich mein Heim liebe und sie
nach einer Weile dessen sichtbare Seele werden.
Jean Cocteau
20
E s war Zeit, meine Nachforschungen abzuschließen. Inzwischen hatte ich mit einem halben Dutzend Menschen gesprochen, deren Vater oder Mutter mit Oscar neben sich gestorben war. Ich hatte an Erinnerungen und Emotionen gerührt und viel darüber erfahren, was der Umgang mit Demenzkranken für deren Angehörige bedeutet. Über Oscar wusste ich jedoch erstaunlicherweise immer noch recht wenig.
Enttäuscht war ich trotzdem nicht. Ich hatte zwar keine Lösung parat, aber dafür spürte ich ein merkwürdiges Glücksgefühl. Immer wieder musste ich daran denken, wie Oscar mit Cyndy Viveiros den Flur entlanggegangen war und in der dunklen Küche neben ihr gesessen hatte, so wie er vorher bei ihrer Mutter gewesen war. Vielleicht war er einfach das: ein Gefährte. Ein empfindungsfähiges Lebewesen, das andere Wesen auf ihrer Reise in die nächste Welt begleitete oder ihnen half, den Kummer über den Verlust eines geliebten Menschen zu ertragen. Reichte das nicht aus?
War es überhaupt von Belang, ob er womöglich irgendwelche außersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten besaß, mit denen er den Tod
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