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Osiris Ritual

Osiris Ritual

Titel: Osiris Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Mann
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sagen, Miss
Hobbes. Zwei oder drei Monate, würde ich sagen, wenn man bedenkt, wie schnell
sie verfällt.«
    Veronica ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass die Fingernägel
sich tief in die Handflächen gruben. »Können Sie denn gar nichts tun?«
    Der Doktor schien verlegen. »Ich kann es Ihrer Schwester so leicht
wie möglich machen.« Er wich ihrem Blick aus.
    Veronica blinzelte, um die brennenden Tränen zu vertreiben. »Darf
ich sie sehen?«
    Â»Ja, ich bringe Sie zu ihr.« Er ging durch
den Flur voraus, Veronica folgte ihm. Sie tupfte sich die Augen ab und rang um
ihre Fassung.
    Nach einer Wanderung durch ein anscheinend endloses Gewirr öder,
steriler Flure erreichten sie eine Tür. »Sie ist dort drinnen, wahrscheinlich
schläft sie.« Er drehte sich um und blickte in die
Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich lasse Sie eine Weile allein.
Versuchen Sie, Ihre Schwester nicht zu sehr anzustrengen, und bemühen Sie sich,
zuversichtlich zu wirken.« Er hustete einmal in die
geballte Faust, strich seine Anzugjacke glatt und ließ sie vor der Tür stehen.
Gleich darauf verklangen seine Schritte in der ewigen Kakophonie der Anstalt.
    Schließlich fasste Veronica sich ein Herz, langte nach dem Griff und
stieß die Tür auf, um einzutreten. Es war ein kleines Krankenzimmer, in dem es
nur ein Bett, einen Stuhl und einen Nachttisch gab. Beleuchtet wurde es mit
einer einsamen Lampe, die Vorhänge waren vorgezogen.
    Ihre Schwester lag wie ein Häuflein Elend im Bett, fast völlig zwischen
Kissen und Decken begraben. Das pechschwarze Haar umrahmte ihr Gesicht, und sie
wirkte schrecklich abgemagert und ausgemergelt, da sie kaum noch etwas zu sich
nehmen konnte. Die Augen waren tief eingesunken, das Gesicht hager. Sie war
erst neunzehn Jahre alt, man konnte sie jedoch leicht für eine doppelt so alte
Frau halten. Veronica fand sie allerdings immer noch schön. Sie strahlte, als
Amelia sich zu ihr umdrehte und sie ansah, offenbar aufgeschreckt von der ins
Schloss fallenden Tür.
    Â»Hallo, Schwester. Spar dir das falsche Lächeln. Glaube nicht, ich
wüsste nicht, was die Leute sehen, wenn sie mich erblicken. Ich habe einen
Spiegel.« Sie starrte Veronica an. »Ich sterbe, ich
verfalle, und die Ärzte wissen den Grund nicht.« Dann
wurde ihre Miene wieder weicher.
    Veronica trat an ihr Bett. »Ich würde dir nichts verheimlichen,
Amelia.«
    Â»Warum stehst du dann da und tust so, als ob alles in Ordnung wäre?«
    Â»Du kennst den Grund.«
    Amelia zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Angst, Veronica. Das
ist doch nichts Neues. Jeden Tag sterben Menschen. Der Tod ereilt uns alle. Das
Leben ist nur ein langer Kampf, der immer mit dem Tod endet. Mir ist inzwischen
klar, dass die einzige Lektion, die wir aus dem Leben wirklich lernen können,
darin besteht, mit Würde zu sterben. Genau das habe ich vor.«
    Â»Mein Gott, Amelia …«
    Â»Glaubst du an Gott, Schwester? Ich meine, glaubst du wirklich und
ernsthaft an ihn?«
    Veronica zögerte, und als sie antwortete, war es ein atemloses
Flüstern. »Ich … nein. Ich glaube nicht an Gott. Wenigstens nicht auf die Art
und Weise, wie du es meinst. Ich …«
    Â»Schon gut«, unterbrach Amelia sie mit schwacher Stimme. Sie drehte
den Kopf auf dem Kissen herum, bis sie die vertäfelte Tür betrachten konnte. »Ich
auch nicht. Mir fehlt die Fähigkeit, mir ein Leben nach dem Tod vorzustellen.«
    Veronica atmete scharf ein. »Amelia, das ist aber eine schrecklich
düstere Einstellung zum Leben.«
    Â»Es ist eine schrecklich ehrliche Einstellung.«
    Â»Willst du das wirklich? Soll alles so einfach enden?« Veronica konnte die Schärfe nicht ganz aus ihrer Stimme
verbannen.
    Amelia versuchte, sich aufzurichten. Sie drehte sich und erwiderte
den Blick ihrer Schwester. »Nein! Das will ich ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil,
ich will leben und bin überhaupt nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Trotzdem
erkenne ich, dass das Ende nahe ist.«
    Veronica schüttelte den Kopf. »Hör bloß nicht auf, dagegen
anzukämpfen, Amelia!«
    Die jüngere Frau lächelte und ließ sich wieder auf das Kissen sinken.
»Veronica, ich habe nicht die Absicht, kampflos aufzugeben.«
Sie winkte ihre Schwester zu sich. »Aber jetzt komm mal her und lass dich
ansehen. Du musst mir alle Neuigkeiten

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