Osiris Ritual
hätte es nicht überrascht, wenn diese dahinrasenden Fahrzeuge weitere
Unfälle verursacht hätten. Glücklicherweise hatte ihr Kutscher seine
verängstigten Pferde schnell wieder unter Kontrolle gebracht und einen Umweg
eingeschlagen, um dem Durcheinander zu entgehen, durch das sie sonst hätten
fahren müssen.
Im Grunde wusste Veronica aber genau, dass sie nicht deshalb so
niedergeschlagen war. Wieder einmal hatte Sir Maurice sie am Morgen versetzt.
Eigentlich konnte sie ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, weil er sich
zunächst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern musste, aber sie konnte nicht
anders, sie fühlte sich durch diesen Mangel an Aufmerksamkeit ein wenig gekränkt,
zumal es nach wie vor galt, das Schicksal der vermissten Frauen zu klären.
AuÃerdem war da noch Amelia. Sie hatte es kaum ertragen, als sie
eine Woche zuvor ihre jüngere Schwester das letzte Mal besucht hatte. Amelia
wurde mit jedem Tag schwächer und gebrechlicher. Es war, als raubten ihr die
Anfälle jegliche Lebensenergie und Kraft, als litte sie an einer Art zehrender
Krankheit, die unweigerlich mit dem Tod enden würde. Veronica ertrug es nicht, zur
Untätigkeit verdammt zusehen zu müssen, wie ihre Schwester verfiel. Amelia war
ihr viel zu wichtig.
Sie starrte zum Gebäude hinauf. Es wirkte unheilvoll und verlassen.
Der Lichthof war leer, ein dichter, wallender Nebel hatte sich über den Garten
gelegt. Der Uhrenturm verschwand über dem Eingang im milchigen Himmel. Doch sie
konnte es nicht länger aufschieben. Entschlossen ging sie zum Sanatorium, ihre
Stiefel knirschten laut im losen Kies.
Der Empfangsbereich bildete einen bemerkenswerten Gegensatz zu der
nebligen Einsamkeit drauÃen vor dem Sanatorium. Dort drinnen gab es reichlich
Lebenszeichen. Eine Schwester saà mit abwesender Miene hinter der
Empfangstheke, ein Arzt schritt zielstrebig über den Flur. In den Zimmern
hockten die Patienten, die an einer Vielzahl schrecklicher Gemütskrankheiten
litten. Veronica war immer bedrückt, wenn sie die Laute der Insassen vernahm.
Das Wehklagen, die Schreie, das Jammern, das Plappern, all das bildete eine
beständige Lärmkulisse, die ebenso verstörend wie unausweichlich war. Nicht
selten reagierte Veronica gereizt, wenn sie hierherkam. Diese Atmosphäre lieà sie
mehr als alles andere wünschen, sie könnte für Amelia eine zuträglichere
Umgebung finden, in der sie wieder gesund werden konnte. Sie war sicher, dass
diese Anstalt den langsamen Verfall ihrer Schwester förderte. Auch machte
Veronica es ihren Eltern zum Vorwurf, dass sie sich der »Peinlichkeit«
entledigt und ihre Tochter ins Heim eingewiesen hatten. Was Amelia vor allem
brauchte, waren Liebe und das Gefühl, wie ein echter Mensch angesehen zu
werden, nicht wie etwas, das man vor der Gesellschaft verstecken musste wie ein
Rätsel, das leider nicht zu lösen war.
Zerstreut drehte sich Veronica um und bemerkte Amelias Arzt, Dr. Mason,
der sich ihr quer durch die Empfangshalle näherte. Er wirkte müde und erschöpft
von seiner Arbeit. An diesem Tag trug er einen eleganten schwarzen Anzug mit
weiÃem Kragen, hatte aber offenbar irgendwann die Krawatte abgenommen und
vergessen, sie wieder anzulegen. Er war um die fünfzig Jahre alt, eher dunkel
und hatte schwarze Haare, die er sich glatt aus der Stirn zurückgekämmt hatte.
Erleichtert ergriff er als Erster das Wort. »Miss Hobbes, ich bin froh, dass
Sie gekommen sind. Seit nunmehr einer Woche versuche ich vergeblich, Ihre
Eltern zu erreichen.«
Veronica runzelte die Stirn. »Dr. Mason, ich kann wirklich nicht
behaupten, jede Bewegung meiner Eltern zu verfolgen. Ich fürchte, ich bin nicht
besser als Sie imstande, sie ausfindig zu machen. Möglicherweise besuchen sie
den Vetter meines Vaters in Paris.« Dann fragte sie
besorgt: »Warum? Ist etwas mit Amelia passiert?«
Dr. Mason verzog schmerzlich das Gesicht, offenbar gab es schlimme
Neuigkeiten. »Ihre Schwester ist sehr krank, Miss Hobbes. Ich fürchte, Sie
müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen.«
Veronica seufzte. Auf das Schlimmste gefasst
machen ⦠Demnach hatte sich Amelias Zustand noch einmal erheblich
verschlechtert. Rasch fing sie sich wieder, doch ihre Stimme war dünn und brach
beinahe, als sie antwortete. »Wie lange noch?«
Dr. Mason schüttelte den Kopf. »Das vermag ich nicht zu
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