Osiris Ritual
Statue in die Hand. Es war das Abbild eines mumifizierten
Pharaos aus Ton, versehen mit drei ordentlichen Zeilen in der Schrift der
Priester, die sie nicht lesen konnte. Die Figur war gewiss sehr alt, so viel
war sicher. Sie stellte sie weg. Eine andere, ähnliche Statue war in der Mitte
zerbrochen. Die beiden Stücke, die in der Mitte hohl waren, lagen
nebeneinander. Vermutlich hatte derjenige, der das alte Objekt zerbrochen
hatte, aus dem Inneren etwas entfernt.
»Du meine Güte!«, ï¬Ã¼sterte sie. Allmählich
dämmerte es ihr. Die Anwesenheit dieser ägyptischen Objekte war ganz gewiss
kein Zufall. Dies musste etwas mit Sir Mauriceâ Ermittlungen wegen der Ermordung
Lord Winthrops zu tun haben. Hatte Alfonso etwa auch dort seine Hand im Spiel
gehabt?
Sie umrundete den Tisch und betrachtete die anderen Artefakte: eine
Reihe von Uschebti-Figuren, alle zerbrochen, der geheime Inhalt war entfernt.
Jemand â vermutlich Alfonso â hatte die Objekte genau untersucht, denn viele
Papiere enthielten Notizen, die offenbar der Entschlüsselung der Inschriften
dienten, und obendrein seltsame mathematische Zeichnungen: Sterne mit Kreisen
und andere Piktogramme, die sie an die Bücher in Sir Mauriceâ Bibliothek in
Chelsea erinnerten. Sie holte tief Luft und wischte sich die Stirn ab, dann
schüttelte sie den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Erst jetzt fiel ihr ein, sich nach einem Fluchtweg umzusehen und zu
verschwinden. Sie musste Sir Maurice finden.
Die Agentin lieà den verschwommenen Blick durch den Raum wandern.
Gegenüber befand sich eine Tür. Veronica schlich um den Tisch herum darauf zu,
doch dann blieb sie entsetzt stehen. Dort in der Ecke, nur zwei Schritte links
neben dem Ausgang, war sie auf den grässlichsten Anblick gestoÃen, den sie je
gesehen hatte. Es war ein Haufen weiblicher Leichen, die an der Wand
aufgestapelt waren und verwesten.
Die toten Frauen, es waren fünf oder sechs, hatte irgendjemand
achtlos abgelegt wie nutzlose Marionetten. Rings um die schlaffen Gesichter
kreisten die Fliegen. Veronica wurde übel, sie hatte ja keine Ahnung gehabt,
dass die Sache so ernst war. Bisher waren in dieser Gegend nur zwei Frauen als
vermisst gemeldet worden. Alfonso war offenbar in seinem geheimen Schlachthaus
recht emsig gewesen. Entsetzt nahm sie das Ausmaà seiner Verderbtheit zur
Kenntnis. Was hatte er den Frauen angetan? Wie konnte er hier unten noch weiter
arbeiten, wenn er doch ständig die starren toten Augen sah, deren Blicke ihn zu
durchbohren schienen? Und erst der Geruch!
Veronica suchte in der Jackentasche nach einem Taschentuch, presste
es sich auf Mund und Nase und näherte sich zögernd dem widerlichen
Leichenhaufen. Sie konnte nicht glauben, dass jemand die Frauen, auch wenn sie
tot waren, so respektlos behandelt hatte. Wenigstens waren sie noch voll bekleidet,
aber trotzdem war mit ihnen etwas Furchtbares geschehen. Die Mienen, soweit
Veronica sie erkennen konnte, zeigten nackte Angst. Die Frauen hatten dem Tod
ins Auge geblickt.
Veronica hockte sich neben die vorderste Leiche. Die Frau war jung â
höchstens zwanzig â und hatte lange, hübsche rotblonde Locken und volle rosafarbene
Lippen. Die Augen waren einst blau gewesen, jetzt waren sie milchig und grau.
Das Opfer lag halb auf dem Bauch, fast verdeckt von der Leiche einer älteren
brünetten Frau. Ein Arm hing frei herab. Veronica schnitt eine Grimasse,
während sie den Kopf schief legte. Von der Stirn der Toten lief eine Spur von
dunklem, geronnenem Blut bis zum Nasenï¬Ã¼gel. Veronica verfolgte die Spur und
fand zu ihrem Entsetzen gleich darauf heraus, dass der Ursprung ein kleines
Loch war, das jemand der Frau in die Stirn gebohrt hatte. Sie überwand sich und
tastete es mit den Fingerspitzen ab. Es war ungefähr so groà wie die Spitze
eines Stifts und befand sich genau in der Mitte der Stirn. Veronica untersuchte
eine weitere Frau, die auf genau die gleiche Weise verletzt war. Aus einem ihr
unbekannten Grund hatte jemand den Frauen Löcher durch den Knochen bis tief in
die Schädelhöhle gebohrt. Womöglich hatte Alfonso irgendetwas aus den Köpfen
extrahiert.
Veronica umrundete den Leichenhaufen und war froh, dass der starke
Geruch des Chloroforms ihren Geruchssinn so sehr in Anspruch nahm. Einige
Leichen waren schon mehrere Tage alt, vielleicht sogar Wochen, und verwesten
bereits. Die wächserne Haut blähte sich
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