Osiris Ritual
Untergrundstation. Inzwischen wimmelte es vor
Polizeiwachtmeistern und Angestellten der Untergrundbahn. Sie versuchten, die
Gaffer abzuhalten, die das Wrack sehen wollten, und redeten halblaut mit
Zeugen. Newbury erkannte die Frau, die ihm nach der Landung aufgeholfen hatte,
und wandte sich rasch ab, um nicht von ihr bemerkt zu werden.
DrauÃen vor der Station wirkte die StraÃe düster und unheildrohend.
Newbury zog die Jacke eng um sich und hustete im dichten Nebel. Er wandte sich
an den jungen Reporter, der aufgeregt neben ihm lief und auf nähere Anweisungen
wartete. »Purefoy, Sie müssen die Polizei verständigen. Fahren Sie direkt zu
Scotland Yard und sagen Sie, Sir Maurice Newbury habe Sie geschickt und Sie müssten
mit Sir Charles Bainbridge sprechen. Charles ist ein guter Mann. Erzählen Sie
ihm alles, berichten Sie ihm alle Einzelheiten der Ereignisse dieses Abends,
und dann soll er seine Leute zum Arbury House schicken. Die Polizei muss Blakes
Wohnung sichern.«
Purefoy nickte. »Aber natürlich.« Er zögerte. »Wollen Sie ihn denn
weiterverfolgen? Den Mörder, meine ich?«
Newbury lächelte. Er zog die Taschenuhr aus der Jacke und hielt sie
einen Moment in der Hand, um das schön verzierte Ziffernblatt zu betrachten. Es
war fast sieben Uhr. »Ich? Nein. Ich habe eine Verabredung mit einer
hinreiÃenden jungen Frau.«
Purefoy lachte. »Sir Maurice, darf ich vorschlagen, dass Sie sich
vorher noch etwas Zeit nehmen, um sich umzuziehen?«
Der Agent betrachtete den ramponierten und schmutzigen Anzug, auf
dem Dreck, Sand und Ãl klebten. Er zwinkerte dem Reporter zu. »Damit dürften
Sie durchaus recht haben, mein junger Freund.«
Purefoys Ratschlag war zwar sehr sinnvoll, doch Newbury fehlte
die Zeit. Wenn er erst mit der Droschke nach Chelsea fuhr, würde er seine Verabredung
mit Miss Hobbes in Kensington versäumen. Er wollte sie nicht schon wieder
versetzen. So steckte er trotz seines verwahrlosten Zustands Purefoy zuerst in
eine Droschke, hielt eine zweite für sich selbst an und trug dem Fahrer auf,
ihn direkt zu Miss Hobbes zu bringen, die ihn immerhin schon in schlimmerer
Verfassung gesehen hatte.
Die Kutsche klapperte durch die aufdringlichen StraÃengerüche nach
Kensington. Der Nebel hatte sich rasch gesenkt und erweckte den Eindruck, er
wollte sich für längere Zeit verschanzen. Durch die Fenster beobachtete Newbury
die drauÃen vorbeisausenden Umrisse. Gespenstische Figuren in der dunstigen
graugelben Kulisse, wie Geister, die dem Zugriff des Jenseits entkommen wollten.
Alle Gebäude, alle StraÃenecken, alle Mündungen von Gassen wurden in der grauen
Suppe zu Erscheinungen, die nicht zu dieser Welt gehörten. Gestalten schälten
sich aus den dicken Schwaden und nahmen ganz neue Rollen ein: Die Bäume einer Allee
waren vergessene Soldaten, die ewig in Habtachtstellung verharrten, ein
einsamer Blumenverkäufer war ein ätherischer Geist, der auf der Suche nach
Gefährten in den verlassenen StraÃen umging. Newbury malte sich die Gestalten
im Nebel aus, wie er es als Junge getan hatte, doch das hier waren nicht mehr
die Bilder, die der lebhaften Fantasie eines Knaben entsprangen. Inzwischen
wusste Newbury, dass dort drauÃen in der bleichen Dunkelheit echte Ungeheuer
umgingen, menschliche wie nicht menschliche. Er hatte Narben, die es bewiesen.
Er seufzte und lehnte sich auf dem weichen Ledersitz zurück.
Hoffentlich lichtete sich der Nebel bald. Wenn nicht, würde Mrs. Bradshaw wohl
wieder Asthmaanfälle bekommen. Im Winter hatte es sie schlimm erwischt, und er
hatte sich groÃe Sorgen um ihre Gesundheit gemacht. AuÃerdem konnte er ohne die
Frau nicht leben. Sie war ein Wunder. Unbeeindruckt und unerschrocken ging sie
auf all seine Launen ein.
Newbury blickte wieder auf die Taschenuhr. Inzwischen war es zehn
Minuten nach sieben. Er stellte sich vor, wie Veronica in Kensington am Kamin
saà und ungeduldig auf ihn wartete. Wahrscheinlich verï¬uchte sie ihn insgeheim
auf ihre sanfte Art wegen seiner Unpünktlichkeit. Doch er würde bald eintreffen
und konnte sich hoffentlich noch einen Augenblick Zeit nehmen, um sich zu
entspannen, ehe sie die Ermittlungen fortsetzten. Er brauchte einen Brandy.
Nein, er brauchte viel mehr als einen Weinbrand, doch im Moment würde ihm ein
Schuss Alkohol über das bohrende Verlangen nach dem Mohnsamen hinweghelfen.
Diesen Abend wollte er
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