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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Annahme, er schlafe im Gästezimmer, damit sie ihn nicht stören konnte, ging sie zu Bett.
     
    Eine Stunde später erwachte Lucy mit dem Gefühl einer drohenden Katastrophe und ging, ohne sich anzukleiden, zum Gästezimmer; nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, öffnete sie die Tür. Eine halbe Sekunde später schlug sie die Tür wieder zu und rutschte langsam an der Wand zu Boden. Eliot war seit über zwei Jahren krank gewesen, daher war sie zu keinem anderen Gedanken fähig als: Es ist vorbei. Als dann
das Zittern einsetzte, kehrte sie ins Bett zurück und schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen.
    Er hatte sich den Lauf seiner Schrotflinte in den Mund gesteckt und abgedrückt. Die Waffe hatte seinem Vater gehört, der sie zu demselben Zweck benutzt hatte. Der einzige Abschiedsbrief, den Eliot nach diesem letzten Akt makabrer Symmetrie hinterließ, war eine peinlich genaue Anleitung, wie die Flinte zu reinigen und zu pflegen sei. Er und Lucy hatten keine Kinder. Er war zweiunddreißig Jahre alt geworden.
     
    Eine Woche zuvor waren wir zu dritt einen Aussichtshügel in den Borders hinaufgeklettert, um zu sehen, wie die Jubilee- Freudenfeuer in der Dunkelheit entlang der Bergrücken aufflammten wie rote Girlanden. «Ein bonfire ist eigentlich gar kein ‹gutes› Feuer», erklärte Eliot, «obwohl ich zugeben muss, dass auch das ein Bestandteil des Wortes ist. Ursprünglich wurde das Feuer aber mit bones gemacht, mit Knochen von toten Tieren, aber auch, fi fei fo fum, mit menschlichen Überresten, nämlich verkohlten Skeletten, meine Lieben, von yuman beans, von Menschenwesen.»
    Er hatte widerspenstige rote Haare, ein Lachen wie das Geheul einer Eule und war so dürr wie ein Hexenbesen. Da wir im fröhlichen Schattenspiel des Feuerscheins allesamt geisteskrank aussahen, fiel es uns nicht schwer, seine hohlen Wangen, das pantomimenhafte Hochziehen der Augenbrauen und das Glitzern des Wahnsinns in seinen Augen zu übersehen. Wir standen dicht an den Flammen, und Eliot erzählte Schauergeschichten von Hexensabbatfeiern, die hier stattgefunden haben sollen, bei denen urintrinkende Hexenmeister in schwarzen Umhängen alle Teufel der Hölle heraufbeschworen. Wir kippten Brandy aus seinem silbernen Flachmann und erschauerten geziemend. Doch war er auch persönlich einem Dämonen begegnet, und seit jenem Tag befanden Lucy und
er sich auf der Flucht. Sie hatten ihr Spukhaus, eine winzige Hütte am Portugal Place in Cambridge, verkauft und waren in das triste, nach Schafen stinkende Waliser Cottage gezogen, das sie (mit Galgenhumor) Crowley End nannten.
    Es hatte nichts geholfen. Während wir bei Eliots Geistergeschichten spitz aufschrien, wussten wir, dass der Dämon die Nummer seines Autokennzeichens verfolgt hatte und dass er ihn nicht nur jederzeit auf seiner Geheimleitung anrufen konnte, sondern auch seine neue Privatadresse entdeckt haben musste.
    «Bitte, komm schnell!», hatte Lucy gesagt, als sie mich anrief. «Sie haben ihn erwischt, wie er mit hundertfünfzig Sachen als Geisterfahrer auf der Schnellstraße fuhr; dabei trug er eine von diesen Schlafmasken vor den Augen.» Sie hatte eine Menge für ihn aufgegeben; ihren Job bei einer Londoner Sonntagszeitung hatte sie gekündigt und sich mit einem Provinzblättchen zufriedengegeben, weil er wahnsinnig geworden war und sie in seiner Nähe bleiben musste.
    «Werde ich inzwischen geduldet?», erkundigte ich mich.
    Eliot hatte sich eine Verschwörungstheorie ausgedacht, nach der sich die meisten seiner Freunde als Agenten feindlicher Mächte, irdischer wie außerirdischer, entpuppten. Ich selbst war ein Eindringling vom Mars, eines von jenen gefährlichen Wesen, die Großbritannien infiltriert hatten, nachdem gewisse grundlegende Wachsamkeitsvorkehrungen vernachlässigt worden waren. Da die Marsmenschen eine besondere Begabung für Mimikry besaßen, vermochten sie yuman beans davon zu überzeugen, dass sie beans vom selben Schlag waren, und natürlich vermehrten sie sich wie die Fruchtfliegen auf einem Haufen faulender Bananen.
    Über ein Jahr lang, während dieser Marsmenschenphase, hatte ich ihn nicht besuchen dürfen. Lucy ließ mir telefonische Bulletins zukommen: einmal wirkten die Medikamente,
dann wirkten sie nicht, weil er sich weigerte, sie regelmäßig zu nehmen; es schien ihm besserzugehen, solange er nicht zu schreiben versuchte, und es schien ihm schlechterzugehen, weil ihn das Nichtschreiben in tiefe Depressionen stürzte; er war passiv und

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