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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sieht – ihre eigene Vision.
    Die Schale zeigt ihr, dass alles, die gesamte bekannte Welt, nunmehr ihr Eigen ist. Alles ist in ihrer Hand, sie kann damit machen, was sie will. Und als ihr das klar wird – träumt Kolumbus –, stockt sofort das Blut und wird zu einem dicken, fauligen Schlamm. Woraufhin die Isabella aus Kolumbus’ von Übermüdung, aber auch Rachsucht zeugendem Traum bis ins Mark erschüttert ist von der Erkenntnis, dass sie niemals, niemals, NIEMALS! mit dem Besitz des Bekannten zufrieden sein wird. Nur das Unbekannte, vielleicht sogar das Unerkennbare, kann sie noch befriedigen.
     
    Da fällt ihr auf einmal Kolumbus ein (er träumt, dass sie sich an ihn erinnert), Kolumbus, der Unsichtbare, der davon träumt, die unsichtbare Welt zu betreten, die unbekannte und vielleicht sogar unerkennbare Welt hinter der Grenze aller Dinge, hinter der Steinschale des Alltäglichen, hinter dem dicken Blut des Meeres. In diesem schmerzlichen Traum zwingt Kolumbus Isabella, endlich die Wahrheit zu sehen, endlich einzugestehen, dass sie ihn ebenso dringend braucht wie er sie. Jawohl! Jetzt weiß sie es! Sie muss muss muss ihm das Geld, die Schiffe, muss ihm alles geben, und er muss muss muss ihre Farben und ihr Wappen über das Ende der Welt hinaustragen, in die Verzückung und die Unsterblichkeit, sie auf ewig mit Fesseln an sich binden, die schwerer zu lösen sind als jene einer sterblichen Liebe: mit den harten und vergöttlichenden Banden der Geschichte.
     
    «Erfüllung.»

     
    In Kolumbus’ wildem Traum rauft sich Isabella die Haare, stürzt aus dem Löwenhof und schreit nach ihren Herolden.
    «Bringt ihn mir!», befiehlt sie.
    In seinem Traum aber lässt Kolumbus sich nicht zu ihr bringen. Er wickelt sich in den verstaubten Flickenumhang seiner Unsichtbarkeit, und die Herolde galoppieren vergebens kreuz und quer. Isabella kreischt, fleht, bettelt.
    Miststück! Miststück! Wie gefällt dir das jetzt, höhnt Kolumbus. Indem er sich von ihrem Hof entfernte, durch diese endgültige, selbstmörderische Unsichtbarkeit, hat nunmehr er ihr den Herzenswunsch versagt. Geschieht ihr recht!
    Miststück!
    Sie hat seine Hoffnungen gemordet, oder etwa nicht? Nun gut. Indem sie das tat, hat sie sich selbst genauso gedemütigt. Poetische Gerechtigkeit. Nur recht und billig.
    Am Ende des Traums lässt er sich von ihren Boten aufstöbern. Ihr Hufschlag, ihre hektisch winkenden Arme. Sie bitten, schmeicheln, versuchen ihn zu bestechen. Aber es ist zu spät. Nur die süße, selbstzerfleischende Freude, das Mögliche zu morden, bleibt ihm.
    Er gibt den Herolden seine Antwort: ein Kopfschütteln.
    «Nein.»
     
    Er kommt zur Besinnung.
    Inmitten der fruchtbaren Ebene liegt er auf den Knien und erwartet den Tod. Er hört den Hufschlag näher kommen und hebt den Blick, fast erwartet er, den Todesengel vor sich zu sehen, der wie ein Eroberer auf ihn zugeritten kommt. Die schwarzen Schwingen, den unbeteiligten Gesichtsausdruck.
    Isabellas Herolde umzingeln ihn. Sie bieten ihm zu essen an, zu trinken, ein Pferd. Sie rufen:
    Eine gute Nachricht! Die Königin befiehlt Euch zu sich!

     
    Eure Seereise: eine wundervolle Nachricht.
    Sie hatte eine Vision" und ihr wurde angst.
    All ihre Träume sind Weissagungen.
     
    Die Herolde sitzen ab. Sie versuchen ihn zu bestechen, schmeicheln, bitten.
    Sie kam aus dem Löwenhof gestürzt und rief Euren Namen.
    Sie wird Euch auf Reisen schicken, über die Steinschale der bekannten Welt, über das dicke Blut des Meeres hinaus.
    Sie erwarten euch in Santa Fé.
    Ihr müsst augenblicklich mitkommen.
    Kolumbus erhebt sich wie ein endlich erhörter Liebender, wie ein Bräutigam am Hochzeitstag. Er öffnet den Mund, und fast wäre die verbitterte Weigerung herausgekommen: nein.
    «Ja», antwortet er den Herolden. O ja. Ich komme.

Osten, Westen

Die Harmonie der Sphären
    Um die Zeit der Jubilee- Feiern 1 saß der Schriftsteller Eliot Crane, der an von ihm als «Brainstorms» bezeichneten Anfällen paranoider Schizophrenie litt, mit seiner Frau, einer jungen Fotojournalistin namens Lucy Evans, in der walisischen Stadt R., wo sie an der Lokalzeitung arbeitete, beim Lunch. Er wirkte heiter und erklärte, er fühle sich wohl, nur etwas müde, und werde zeitig zu Bett gehen. Da bei der Zeitung eine der abendlichen Pressebesprechungen stattfand, kam Lucy erst spät nach Hause zu ihrem Cottage am Hügelhang; als sie in den oberen Stock hinaufging, fand sie Eliot nicht im gemeinsamen Schlafzimmer. In der

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