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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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antriebslos, er tobte und wurde gewalttätig; er war erfüllt von Schuldgefühlen und Verzweiflung.
    Ich fühlte mich hilflos; wie das so ist.
     
    Wir befreundeten uns während meines letzten Jahres in Cambridge, als ich gerade eine anstrengende Affäre mit einer Studentin namens Laura hatte, bei der wir uns ständig trennten und wieder versöhnten. Sie schrieb ihre Abschlussarbeit über James Joyce und den französischen nouveau roman, und ihr zuliebe quälte ich mich zweimal durch «Finnegans Wake» sowie durch das meiste von Sarraute, Butor und Robbe-Grillet. Von romantischen Gefühlen übermannt, kletterte ich eines Nachts aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Chesterton Road, balancierte waghalsig auf dem Sims und erklärte, ich würde erst wieder hereinkommen, wenn sie verspreche, meine Frau zu werden. Am folgenden Morgen rief sie bei ihrer Mutter an, um diese davon in Kenntnis zu setzen. Nach langem Schweigen antwortete Mummy: «Er ist bestimmt ein sehr netter Junge, Liebling, aber könntest du dir nicht jemanden suchen, der ... na ja, du weißt schon ... besser zu dir passt?»
    Laura fühlte sich von dieser Frage gedemütigt. «Was meinst du mit ‹besser zu mir passt›?», schrie sie ins Telefon. «Einen Joyce-Spezialisten? Einen Mann, der ein Meter fünfundsechzig groß ist? Eine Frau?»
    In jenem Sommer jedoch betrank sie sich auf einer Hochzeit, riss mir die Brille vom Gesicht, zerbrach sie, griff sich zum Entsetzen des Brautpaars das Messer für die Hochzeitstorte und erklärte mir, wenn ich je wieder in ihre Nähe käme,
werde sie mich in Stücke hacken und auf Partys als Schaschlik servieren. Also stolperte ich kurzsichtig davon und stieß mehr oder weniger mit einer anderen Frau zusammen, einer grauäugigen, mit einer Großmutterbrille bewaffneten Mit-Ausländerin namens Mala, die sich, ohne zu lachen, freundlich erbot, mich nach Hause zu fahren, da «Ihre Sehfähigkeit vorübergehend vermindert zu sein scheint». Erst nachdem wir verheiratet waren, erfuhr ich, dass diese ernsthafte, ruhige Mala, Nichtraucherin, Nichttrinkerin, Vegetarierin, die drogenfreie, einsame Mala von Mauritius, die Medizinstudentin mit dem Gioconda-Lächeln, von Eliot Crane in meine Richtung gesteuert worden war.
    «Er möchte dich sehen», sagte Lucy am Telefon. «Er scheint sich jetzt keine so großen Sorgen mehr wegen der Marsmenschen zu machen.»
     
    Mit einer roten Decke über den Knien saß Eliot am offenen Kaminfeuer. «Ahoo! Der Raumfeind-Boyoo!», rief er mit breitem Grinsen und hob, halb zum Willkommen, halb als gespielte Kapitulationsgeste, beide Arme über den Kopf. «Setz dich, setz dich, du alter, glotzäugiger Adlatus, und trink ein Glas, bevor du deine bösen Gelüste an uns auslässt, ja?»
    Lucy ließ uns beide allein, und er sprach ruhig und offensichtlich sachlich über die Schizophrenie. Es war schwer zu glauben, dass er vor kurzem erst als Geisterfahrer mit einer Binde vor den Augen auf einer Schnellstraße angetroffen worden war. Wenn ihn der Wahn überkomme, erklärte er, beginne er zu «bellen» und sei zu den wildesten Exzessen fähig. Zwischen den Anfällen sei er jedoch «absolut normal». Er sei zu der Einsicht gekommen, erklärte er, dass es kein Stigma bedeute, endlich zu akzeptieren, dass man wahnsinnig sei: dass der Wahnsinn eine Krankheit wie alle anderen sei, voilà tout.

    «Ich bin auf dem Wege der Besserung», behauptete er zuversichtlich. «Ich habe wieder angefangen zu arbeiten, an dem Owen-Glendower-Buch. Es läuft wunderbar, solange ich mich von dem okkulten Zeug fernhalte.» (Er war Autor einer zweibändigen wissenschaftlichen Studie über offene und geheime Okkultistengruppen im Europa des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Titel «Die Harmonie der Sphären».)
    Er senkte die Stimme. «Ganz unter uns, Khan: Ich arbeite außerdem an einem ganz einfachen Mittel gegen die paranoide Schizophrenie. Ich korrespondiere mit den besten Wissenschaftlern des Landes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie tief beeindruckt die Leute sind. Alle sind sich darin einig, dass ich auf etwas vollkommen Neues gestoßen bin, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir damit an die Öffentlichkeit gehen.»
    Auf einmal wurde ich tieftraurig. «Übrigens, hüte dich vor Lucy!», flüsterte er. «Sie lügt wie eine Hure. Und sie belauscht mich, weißt du. Die haben ihr die modernsten Geräte gegeben. Sie hat Wanzen im Kühlschrank versteckt. In der Butter.»
     
    Mit Lucy machte mich Eliot 1971

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