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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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der bonhomie meines Vaters nicht gerade förderlich war, empfanden wir es auf eine gewisse Weise als Erleichterung, eine Wohnung für uns zu haben. Nachts leerte er meistens eine ganze Flasche Johnnie Walker Red Label und eine Siphon-Flasche Sodawasser. Am Abend wagte meine Mutter sich nicht in «seine Wohnung» hinüber. «Er sieht mich an und schneidet Gesichter», erklärte sie uns.
    Aya Mary brachte Abba das Abendessen und nahm all seine Anrufe entgegen (wenn er irgendetwas wollte, telefonierte er, um es von uns zu verlangen). Ich weiß nicht genau, warum Mary von seinen alkoholisierten Wutausbrüchen verschont blieb. Sie behauptete, es komme daher, dass sie neun Jahre älter sei als er und deswegen von ihm verlangen könne, sie respektvoll zu behandeln.
     
    Nach ein paar Monaten jedoch mietete mein Vater eine Wohnung mit drei Schlafzimmern im vierten Stock eines Hauses mit vornehmer Adresse. Das war das Waverley House im Kensington Court, W8. Zu den übrigen Bewohnern gehörten gleich zwei indische Maharadschas, der sportliche Fürst P. wie auch der alte B., den ich schon erwähnt habe. Nun hockten
wir alle eng aufeinander, meine Eltern und Baby Scare-zade (wie ihre Geschwister sie liebevoll nannten) im Elternschlafzimmer, wir drei in einem viel kleineren Zimmer und Mary, wie ich leider zugeben muss, auf einer Strohmatte, die auf dem Teppichboden des Korridors ausgebreitet wurde. Aus dem dritten Schlafzimmer wurde das Arbeitszimmer meines Vaters, wo er seine Anrufe erledigte sowie seine «Encyclopaedia Britannica» verwahrte, seine «Reader’s-Digest»-Hefte und (fest verschlossen) die Fernsehtruhe. Wir betraten es auf eigene Gefahr. Es war die Höhle des Minotaurus.
     
    Eines Morgens ließ er sich dazu überreden, zur Apotheke an der Ecke zu gehen und einige Dinge für das Baby zu besorgen. Als er wiederkam, machte er ein Gesicht wie ein gekränkter Schuljunge, das ich noch nie an ihm gesehen hatte, und er drückte eine Hand an die Wange.
    «Sie hat mich geschlagen», beklagte er sich.
    «Hai! Allah-tobah! Liebling!», rief meine Mutter aufgeregt. «Wer hat dich geschlagen? Bist du verletzt? Lass mich sehen, zeig mal her!»
    «Dabei hab ich gar nichts getan», versicherte er und stand, die Apothekentüte in der anderen Hand und mit einem Gesicht, so rot wie Mecirs Gummihandschuhe, im Korridor. «Ich bin einfach mit deiner Liste reingegangen. Das junge Mädchen wirkte sehr hilfsbereit. Ich hab nach Babynahrung, Johnson’s Babypuder und Salbe fürs Zahnen gefragt, und sie hat alles zusammengeholt. Dann habe ich sie gefragt, ob sie vielleicht nipples hätte, und da hat sie mich geohrfeigt.»
    Meine Mutter war entsetzt. «Nur deswegen?»
    Certainly-Mary stimmte ihr bei. «Was soll dieser Unsinn?», wollte sie wissen. «Ich bin auch schon in dieser Chemiebude gewesen, und die haben alle möglichen nickles, in verschiedenen Größen, ein paar davon offen ausgestellt.»

    Durré und Muneeza konnten nicht mehr an sich halten. Lachend wälzten sie sich auf dem Fußboden und strampelten mit den Beinen in der Luft.
    «Ihr beide haltet jetzt sofort Ruhe!», befahl meine Mutter. «Eine Wahnsinnige hat euren Vater geschlagen. Was ist so komisch daran?»
    «Nicht zu fassen», japste Durré. «Du hast dich vor dieses Mädchen gestellt und gesagt» – hier prustete sie wieder los, stampfte mit den Füßen und hielt sich den Bauch – : «‹Haben Sie nipples ?›»
    Das Gesicht meines Vaters wurde finster und dunkelrot. Durré riss sich zusammen. «Aber, Abba», sagte sie schließlich,«Schnuller heißen hier teats .»
    Jetzt schlugen sich meine Mutter und Mary die Hand vor den Mund, und selbst mein Vater war schockiert. «Aber wie schamlos!», sagte meine Mutter. «Dasselbe Wort wie das, was an unserem Busen ist!» Sie errötete und streckte vor Scham die Zunge heraus.
    «Diese Engländer!», seufzte Certainly-Mary «Die sind doch das Letzte. Natürlich – ja, das sind sie wirklich.»
     
    Ich erinnere mich deswegen mit so großem Vergnügen an diese Episode, weil es das einzige Mal war, dass ich meinen Vater fassungslos sah; der Zwischenfall wurde Legende und das junge Mädchen in der Apotheke zum Objekt ehrfürchtiger Betrachtung. (Durré und ich gingen einmal hin, nur um sie uns anzusehen – sie war ein unscheinbares, etwas kurz geratenes Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren mit großen, unübersehbaren Brüsten –, doch als sie merkte, dass wir über sie munkelten, funkelte sie uns so wütend an, dass wir

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