Osten, Westen
nicht.»
Er nannte sie schon seit einiger Zeit bei sich Certainly-Mary, weil sie niemals ganz einfach ja oder nein sagte; immer war da dieses O-ja-natürlich oder O-nein-natürlich-nicht. In dem verwirrten Zustand, in dem er sich befand, seit ihn sein Gehirn und damit das Einzige, worauf Verlass war, im Stich gelassen hatte, konnte er sich kaum noch über etwas sicher sein; um so überwältigter war er von ihrer Gewissheit, anfangs voll Heimweh, dann voll Neid, dann voll Zuneigung. Und Zuneigung war etwas so lange in Vergessenheit Geratenes, dass er, als das Rumoren in ihm begann, noch lange dachte, es müsse von den chinesischen Klößchen herrühren, die er sich aus der Garküche an der High Street geholt hatte.
Englisch zu sprechen fiel Certainly-Mary schwer, und das war auch etwas, das den alten, verwirrten Mixed-Up zu ihr hinzog. Das größte Problem stellte für sie der Buchstabe P dar, den sie in ein F oder ein C verwandelte; wenn sie mit ihrem Weidenkorb auf Rädern durch die Halle kam, sagte sie stets: «Geh nur shocking», und wenn er sich bei ihrer Rückkehr erbot, ihr beim Hochhieven des Korbes über die Vor-Ghats zu helfen, antwortete sie: «Ach ja, prima.» Trug der Lift sie dann nach oben, rief sie durch das Eisengitter: « Oé , Courter! Danke, Courter. O ja, natürlich.» Auf Hindi und Konkani kamen ihre Ps jedoch immer an der richtigen Stelle.
Und so war er dank ihrer unerwarteten, irgendwie magenumdrehenden Magie nicht mehr der porter, der Portier, sondern
der Courter. «Courter», sagte er, sobald sie verschwunden war, vor seinem Spiegel, und sein Atem malte ein kleines, schnell schwindendes Bild des Wortes aufs Glas. Okay Die Leute nannten ihn so manches, das störte ihn nicht. Aber dieser Name, dieser Courter, der ihr den Hof macht – ganz genau das wollte er sein.
2
Seit Jahren hatte ich mir schon vorgenommen, die Geschichte von Certainly-Mary, unserer ayah - der Frau, die ebenso viel dazu beigetragen hatte, meine Schwestern und mich großzuziehen, wie meine Mutter –, und ihrem großen Abenteuer mit ihrem Courter aufzuschreiben. Schauplatz des Geschehens war London, wo wir alle Anfang der Sechziger eine Zeitlang in einem Wohnblock namens Waverley House lebten. Aber wie es eben geht, war ich niemals so recht dazu gekommen.
Nach langem Schweigen hörte ich dann plötzlich wieder etwas von Certainly-Mary Sie sei jetzt einundneunzig, schrieb sie mir, habe eine schwere Operation hinter sich, und ob ich ihr freundlicherweise vielleicht ein wenig Geld schicken könne, weil ihre Nichte, bei der sie jetzt im Kurla-Viertel von Bombay lebe, peinlicherweise nicht mehr so gut bei Kasse sei.
Ich schickte ihr das Geld und erhielt bald darauf einen liebenswürdigen Brief der Nichte Stella, geschrieben von derselben Hand, von der auch der Brief unserer «Aya» stammte, wie wir Mary aus palindromischen Gründen immer unter Weglassung des h genannt hatten. Aya sei tief gerührt gewesen, schrieb die Nichte, dass ich sie nach all diesen Jahren noch immer nicht vergessen hätte. «Mein ganzes Leben lang»,
ging der Brief weiter, «habe ich Geschichten über Sie und Ihre Familie gehört, und daher betrachte ich Sie wohl auch ein bisschen als einen Verwandten. Vielleicht erinnern Sie sich an meine Mutter, Marys Schwester. Leider ist sie schon von uns gegangen. Nunmehr bin ich es, die Marys Briefe schreibt. Wir alle wünschen Ihnen nur das Beste.»
Diese Nachricht von einer vertrauten Fremden erreichte mich in meinem erzwungenen Exil, fern von dem geliebten Land meiner Geburt, und bewegte mich sehr, rührte Dinge auf, die zutiefst begraben gewesen waren. Natürlich regte sich auch mein schlechtes Gewissen, weil ich im Laufe der Jahre so wenig für Mary getan hatte. Was immer auch der Grund war, so erschien es mir jetzt wichtiger denn je, diese Geschichte, die ich schon so lange ungeschrieben mit mir herumtrage, zu Papier zu bringen, die Geschichte von Aya und dem liebenswerten Mann, den sie – mit einem unbeabsichtigten, doch prophetischen romantischen Beiklang – den Courter nannte. Wie ich inzwischen erkannt habe, ist es nicht nur die Geschichte der beiden, sondern auch die unsere, die meine.
3
Sein richtiger Name war Mecir, und das sollte man wie Mischirsch aussprechen, denn die Buchstaben einer dieser Sprachen hinter dem Eisernen Vorhang mussten unsichtbare Akzente tragen, wie mir meine Schwester Durré ernsthaft erklärte, und zwar für den Fall, dass jemand
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