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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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musste.
    Am Heiligen Abend meinte meine Mutter, es würde Mary wohl gefallen, wenn wir gemeinsam ein paar Weihnachtslieder sängen. Amma hatte handschriftlich Notenblätter angefertigt, insgesamt sechs. Als wir «Herbei, o ihr Gläubigen» anstimmten, machte ich mich wichtig, indem ich das Lied auswendig auf Latein sang. Jeder von uns verhielt sich vorbildlich. Als Muneeza vorschlug, wir sollten «Swinging on a Star» oder «I Wanna Hold Your Hand» intonieren statt dieses
langweilige Zeug, meinte sie das im Grunde nicht ernst. Das ist Familienleben, dachte ich. So ist es richtig.
    Aber wir taten nur so, als ob.
     
    Einige Wochen zuvor, in der Schule, war ich einem jungen amerikanischen Footballspieler begegnet, dem Star des Rugbyteams unserer Schule, der in der Kapelle haltlos weinte. Als ich ihn fragte, was denn los sei, erzählte er mir, dass Präsident Kennedy ermordet worden sei. «Das glaube ich dir nicht», entgegnete ich, aber ich sah deutlich, dass es stimmte. Der Footballstar schluchzte und schluchzte. Ich nahm seine Hand.
    «Wenn der Präsident stirbt, ist die ganze Nation verwaist», sagte er schließlich und plapperte in seinem Kummer eine Phrase nach, die er vermutlich über die «Stimme Amerikas» gehört hatte.
    «Ich weiß, was du empfindest», log ich. «Mein Vater ist auch gerade gestorben.»
     
    Marys Herzprobleme wurden zu einem Rätsel; sie tauchten unversehens auf und verschwanden wieder. Im Verlauf der nächsten sechs Monate wurden alle möglichen Untersuchungen mit ihr angestellt, doch jedes Mal schüttelten die Ärzte hinterher den Kopf: Sie konnten keine Symptome bei ihr feststellen. Körperlich war sie putzmunter; nur dass ihr Herz hin und wieder wie die Wildpferde in «Nicht gesellschaftsfähig»bockte und ausschlug, jene Pferde, die es Marilyn Monroe so schwermachten, sie einzufangen und zu bändigen.
    Im Frühling kehrte Mecir auf seinen Posten zurück, doch seine Verletzung hatte ihm die innere Kraft geraubt. Es dauerte länger, bis er lächelte, seine Augen blickten stumpfer und mehr nach innen gewandt. Auch Mary war stärker in
sich selbst gekehrt. Sie trafen sich immer noch zum Tee mit Crumpets und der «Familie Feuerstein», doch irgendetwas stimmte nicht mehr so ganz.
    Zu Beginn des Sommers offenbarte sich Mary.
    «Ich weiß, was mit mir los ist», verkündete sie meinen Eltern aus heiterem Himmel. «Ich muss nach Hause.»
    «Aber, Aya», wandte meine Mutter ein, «Heimweh ist keine richtige Krankheit.»
    «Gott allein weiß, warum wir in dieses Land kommen mussten», erwiderte Mary. «Aber ich kann nicht länger hierbleiben. Nein. Natürlich nicht.» Sie war fest entschlossen.
    Also war es England, das ihr das Herz brach, weil es nicht Indien war. Und London brachte sie um, weil es nicht Bombay war. Und Mixed-Up?, fragte ich mich. Tötete der Courter sie auch, weil er nicht mehr er selber war? Oder war es vielmehr so, dass ihr Herz, von zwei verschiedenen Lieben wie mit dem Lasso gefangen, sowohl nach Osten wie nach Westen gezogen wurde – weshalb es auch wieherte und sich aufbäumte wie jene Filmpferde, die von Clark Gable hierhin und von Montgomery Clift dorthin gezerrt wurden – und sie wusste, dass sie sich, um leben zu können, entscheiden musste? «Ich muss gehen», erklärte Certainly-Mary «Ja, natürlich. Bas . Es reicht.»
     
    In jenem Sommer, dem Sommer 1964, wurde ich siebzehn. Chandni kehrte nach Indien zurück. Durrés polnische Freundin Rozalia teilte mir bei einem Sandwich in der Oxford Street mit, sie werde sich mit einem «richtigen Mann» verloben und ich könne sie vergessen, weil dieser Zbigniew sehr eifersüchtig sei. Roy Orbison sang mir « It’s Over» ins Ohr, während ich zur U-Bahn ging, aber in Wirklichkeit hatte noch nie etwas tatsächlich begonnen.
    Certainly-Mary verließ uns Mitte Juli. Mein Vater kaufte ihr
eine Fahrkarte nach Bombay, und dieser letzte Vormittag war überschattet vom Trennungsschmerz.
    Als wir ihre Koffer zum Wagen hinuntertrugen, konnten wir Mecir, den Portier, nirgends entdecken. Mary klopfte nicht an die Tür seiner Pförtnerloge, sondern marschierte geradewegs durch die frischgebohnerte, mit Eichenholz getäfelte Halle, in der die Spiegel und die Messingbeschläge auf Hochglanz poliert waren; sie nahm im Fond unseres Ford Zodiac Platz, wo sie mit ihrer Reisetasche auf dem Schoß steif sitzen blieb und geradeaus blickte. Ich hatte sie vom Beginn meines Lebens an gekannt und geliebt. Lass doch deinen verdammten Courter!,

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