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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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dem sie so unerwartet eine Verbindung geknüpft hatte, immer besser zu begreifen und auf sie zu reagieren.
    Er unterrichtete sie mit großer Geduld, indem er ihr die Dinge zeigte, statt sie mit Worten zu erklären, und ihr Eröffnungen, Kombinationen und die Technik des Endspiels so lange wiederholte, bis sie den Sinn der Beispiele begriff. Wenn die beiden spielten, brachte er sich selbst ins Hintertreffen, zeigte ihr die besten Züge, demonstrierte deren Folgen und zog sie so, Schritt um Schritt, in die unerschöpflichen Möglichkeiten des Schachspiels hinein.
     
    Das war das Liebesspiel der beiden. «Es ist wie ein Abenteuer, baba», versuchte es Mary mir einmal zu erklären. «Es ist, wie reise ich mit ihm in sein Land, weißt du? Was für ein Land, baap-ré ! Frächtig und gefährlich und komisch und ein Rätsel. Für mich eine ganz große Entdeckung. Was soll ich dir sagen? Fang an zu sfielen. Es ist ein Wunder.»
    Da begriff ich, wie weit die Dinge zwischen ihnen gediehen waren. Certainly-Mary hatte niemals geheiratet und dem guten Mixed-Up auch klargemacht, dass es für so einen Unsinn in ihrem Alter zu spät sei. Der Courter war Witwer und hatte irgendwo, längst verschollen hinter den ständig wachsenden Mauern Osteuropas, erwachsene Kinder. Aber im Schachspiel hatten sie eine Art Flirt gefunden, etwas endlos Neues, das die Gefahr der Langeweile ausschloss, ein höfisches Wunderland ihrer alternden Herzen.

    Was hätte der Dodo wohl davon gehalten? Ganz zweifellos wäre es ein Skandal für ihn gewesen, mit ansehen zu müssen, wie das Schachspiel, ausgerechnet das Schachspiel, diese großartige Formalisierung des Krieges, in eine Kunst der Liebe verwandelt wurde.
     
    Was mich betrifft: Meine Niederlagen gegen Certainly-Mary und ihren Courter waren der Beginn weiterer Demütigungen. Durré und Muneeza bekamen Mumps, und trotz aller Bemühungen meiner Mutter, uns auseinanderzuhalten, steckte auch ich mich schließlich an. Entsetzt lag ich im Bett, während der Arzt von mir verlangte, so wenig wie möglich aufzustehen und umherzugehen. «Wenn du das tust», versicherte er mir, «brauchen deine Eltern dich nicht zu bestrafen. Denn dann hast du dich selbst genügend bestraft.»
    Während der darauffolgenden Wochen plagten mich Tag und Nacht Vorstellungen von grotesk geschwollenen Hoden und einem daraus resultierenden Leben in schlaffer Impotenz  – vorbei, bevor es noch richtig losging, das war nicht fair! –, und das alles verschlimmert durch die schnelle Genesung meiner Schwestern und ihre unaufhörlichen Spötteleien. Zum Schluss aber hatte ich doch noch Glück; die Krankheit verbreitete sich nicht bis in den tiefen Süden. «Stell dir vor, wie glücklich deine einhundertundeins Freundinnen sein werden, bhai», höhnte Durré, die alles über meine fortgesetzten Misserfolge in Sachen Rozalia und Chandni wusste.
    Im Radio sangen die Leute ständig davon, wie schön es sei, sechzehn zu sein. Ich fragte mich, wo denn all diese Jungen und Mädchen in meinem Alter waren, die sich so sehr ihres Lebens freuten. Kreuzten sie in Studebaker-Cabrios durch Amerika? In unserem Viertel hielten sie sich jedenfalls nicht auf. Another Saturday night  ... London, W8, war in jenem Sommer ausschließlich Sam-Cooke-Country Da mag irgendeine
Superschnulze Nummer eins auf den Charts gewesen sein, mein Platz war weiter unten bei Lonely Sam – Wie-gernhätte-ich-doch-jemanden etc. –, und ich fühlte mich, ehrlich gesagt, ziemlich bescheiden.
    How I wish I had someone to talk to,
I’m in an awful way.
    9
     
    «Baba, schnell kommen!»
    Es war später Abend, als Aya Mary mich wachrüttelte. Nach endlosem, eindringlichem Gezischel gelang es ihr, mich aus dem Schlaf zu zerren und mich, im Schlafanzug und ständig gähnend, in den Korridor hinauszulotsen. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Wohnung kauerte Mixed-Up, der Courter, wie ein hilfloses Bündel an der Wand und weinte. Er hatte ein blaues Auge, und an seinem Mund klebte getrocknetes Blut.
    «Was ist passiert?», fragte ich Mary erschrocken.
    «Männer», jammerte Mixed-Up. «Drohen. Schlagen.»
    Er hatte etwas früher am Abend in seiner Loge gesessen, als der sportliche Maharadscha von P. hereingeplatzt kam und sagte: «Wenn irgendjemand nach mir fragt, okay, so Schlägertypen, okay, ich bin nicht da, okay? Oh, Sie nehmen den Tee. Lassen Sie sie nicht nach oben, okay? Dickes Trinkgeld, okay?»
    Kurze Zeit später tauchte der alte Maharadscha von B. ebenfalls in Mecirs

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