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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Aktionen mehr nötig seien. Der Portier stehe in derartigen Situationen immer an vorderster Front, erklärte ich, und diese Front habe gehalten. Nun gebe es kein Risiko mehr. Das sei uns versichert worden. Ende der Geschichte.
    «Ende der Geschichte», wiederholte Certainly-Mary skeptisch, aber dann hellte sich ihre Miene, um Mecir zu beruhigen, ein wenig auf. «Richtig», sagte sie. «Aber natürlich! Alles vorbei, finis.» Zur Betonung klatschte sie laut in die Hände. Sie fragte Mixed-Up, ob er nicht Schach spielen wolle; doch ausnahmsweise hatte der Courter dieses Mal keine Lust.
     
     
    10
     
    Danach lenkten mich eine Weile Gewalttätigkeiten in meiner unmittelbaren Nähe von Mixed-Ups und Certainly-Marys Geschichte ab.
    Meine mittlere Schwester, Muneeza, war inzwischen elf
und kam ein wenig zu früh in ihre rebellische Phase. Sie war die einzig wahre Erbin der Wutanfälle meines Vaters, und wenn sie die Beherrschung verlor, bot sie einen fürchterlichen Anblick. In jenem Sommer schien sie bewusst Streit mit meinem Vater herauszufordern; so jung sie auch war, sie schien ihre Kräfte unbedingt mit den seinen messen zu wollen. (Ich mischte mich in ihre Auseinandersetzungen mit Abba nur ein einziges Mal ein, und zwar in der Küche. Da griff sie sich die Küchenschere und warf sie nach mir. Ich kam mit einem Schnitt im Schenkel davon, hielt von da an aber Abstand von ihr.)
    Wenn ich die Kämpfe der beiden beobachtete, hatte ich das Gefühl, von der Idee der Familie an sich abzurücken. Ich betrachtete meine kreischende Schwester und dachte mir, wie perfekt selbstzerstörerisch sie doch war, wie triumphierend sie das Verhältnis zu den Menschen ruinierte, die sie am dringendsten brauchte.
    Und ich betrachtete meinen cholerischen Vater mit seinem wutverzerrten Gesicht und machte mir Gedanken über meine britische Staatsbürgerschaft. Mit meinem indischen Pass konnte ich nur in sehr wenige Länder reisen, die auf der zweiten rechten Seite sorgfältig aufgezählt waren. Aber vielleicht bekam ich schon bald einen britischen Pass, und dann würde ich Abba, komme, was wolle, endgültig verlassen. Nie mehr im Leben wollte ich sein rotes, verzerrtes Gesicht sehen müssen.
    Mit sechzehn glaubt man noch, seinem Vater entrinnen zu können. Man merkt nicht, dass seine Stimme aus dem eigenen Mund spricht, man sieht nicht, dass die eigenen Gesten bereits ein Spiegelbild der seinen sind; man sieht ihn nicht in der Art, wie man sich hält, und nicht in der Art, wie man unterschreibt. Man hört nicht sein Raunen im eigenen Blut.

     
    An dem Tag, von dem ich Ihnen erzählen muss, brach meine zweijährige Schwester Chhoti Scheherazade, Little Scarezade, wie schon so oft bei einem Familienkrach in Tränen aus. Amma und Aya Mary packten sie in ihre Kinderkarre und verließen fluchtartig die Szene. Sie fuhren mit ihr zum Kensington Square, setzten sich auf den Rasen, ließen Scheherazade laufen und ergingen sich, während sie sich austobte, in philosophischen Bemerkungen. Als sie dann einschlief, begaben sie sich im schwindenden Licht des frühen Abends nach Hause. Vor dem Waverley House wurden sie von zwei gutgekleideten jungen Männern mit Beatles-Frisur und in den hochgeknöpften, kragenlosen Jacken, die jene Band damals populär machte, angesprochen. Der erste dieser jungen Männer erkundigte sich bei meiner Mutter zuvorkommend, ob sie möglicherweise die Maharani von B. sei.
    «Nein», antwortete meine Mutter geschmeichelt.
    «O doch, Madam», widersprach der zweite Beatle ebenso höflich. «Denn Sie wollen zum Waverley House, und das ist die Adresse des Maharadschas.»
    «Nein, nein», beteuerte meine Mutter, immer noch rot vor Freude, «wir sind eine andere indische Familie.»
    «Aha.» Der erste Beatle nickte verständnisinnig. Dann legte er zur größten Überraschung meiner Mutter einen Finger an die Nase und zwinkerte ihr zu. «Inkognito, eh? Damit keiner was merkt.»
    «Und nun entschuldigen Sie uns», sagte meine Mutter, der die Geduld ausging. «Wir sind nicht die Damen, die Sie suchen.»
    Der zweite Beatle tippte mit der Fußspitze ganz leicht an ein Rad der Kinderkarre. « Ihr Mann besucht Damen, Madam. Haben Sie das gewusst? O ja, das tut er. Und zwar recht intensiv, möchte ich hinzufügen.»
    «Zu intensiv», ergänzte der erste Beatle, während sich seine Miene verfinsterte.

    «Ich sage Ihnen doch, ich bin nicht die Maharani Begum», sagte meine Mutter, die auf einmal Angst bekam. «Deren Angelegenheiten sind nicht

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