Ostfriesengrab
für seinen Magen, aber es hielt wach. Zunächst kam er sich merkwürdig klar, ja hellsichtig vor, dann ein bisschen speedy, und schließlich wurde ihm schlecht.
Plötzlich erschien wie aus dem Nichts eine schwarze Wolke, als hätte sie hinter dem Walmdach gelauert und auf ihren großen Moment gewartet. Es war nur ein kurzer, heftiger Schauer, nur wenige Minuten, und schon hatte der ostfriesische Wind die
Wolke in Richtung Hannover abgedrängt. Aber Gunnar Peschke und Matthias Omonsky hatten mit der blonden Sängerin die Terrasse verlassen. Die drei entzogen sich jetzt vollständig den Blicken der Polizei.
Rupert ging näher heran, als klug war, und musste befürchten, von den Nachbarn bei seiner Observation gesehen zu werden.
Heiko Reuters pirschte sogar auf Ruperts Anweisungen in den Vorgarten und versuchte, durchs große Wohnzimmerfenster nach innen zu fotografieren. Die Lichtverhältnisse machten es nicht einfach für ihn.
Rupert erwartete, jeden Augenblick von innen einen Schrei zu hören. Er war bereit, das Gebäude sofort zu stürmen und dem Spuk endlich ein Ende zu bereiten.
Der Maurer Peter Grendel hatte Feierabend und fuhr mit seinem gelben Lastwagen nach Hause. Er sah einen Fotografen auf der Terrasse seiner Nachbarin herumschleichen und mit einem riesigen Objektiv ins Haus zielen. Auch Rupert und Schrader kamen ihm nicht ganz geheuer vor. Das waren keine Einbrecher. Er tippte eher auf Spanner und fragte sich, ob die neuerdings im Rudel auftraten.
Er stoppte den Lkw, hielt drohend die Faust aus dem Fenster und rief: »Kann ich euch irgendwie behilflich sein?«
Rupert lief gebückt zum gelben Lastwagen und flüsterte: »Pst, nicht so laut. Dies ist eine Polizeiaktion.«
Peter Grendels homerisches Gelächter ließ Rupert zusammenzucken. »Polizeiaktion? Dann zeig mir mal deinen Ausweis, du Clown!«
Rupert zog seine Marke, aber die beeindruckte Grendel überhaupt nicht. So etwas hätte er auch schon mal auf der Kirmes geschossen, spottete er.
Ruperts Magen verkrampfte sich. Seine Gedärme schienen sich zu verknoten. Er hatte Mühe, Luft zu holen. Gerade noch
hatte er geglaubt, hier zum Helden zu werden, jetzt war er auf dem besten Wege, sich lächerlich zu machen, während da drinnen möglicherweise ein Mord geschah.
Nun kam auch Schrader zum Lastwagen gelaufen. Heiko Reuters versuchte weiter sein Glück mit dem Teleobjektiv.
Peter Grendel hatte schon sein Handy am Ohr. »Wisst ihr was, Jungs? Ich ruf mal die Polizei in Norden an. Denen könnt ihr eure Geschichte bestimmt auch erzählen. Die lachen auch gern.«
»Mach keinen Scheiß, Peter«, sagte Schrader. Jetzt erkannte Peter Grendel ihn. Vor zwei Jahren hatte er an Schraders Elternhaus einige Reparaturen durchgeführt.
Im Haus wurde jetzt die Musik laut gedreht. Der Bi-Ba-Badewannenboogie hallte durch die Siedlung. Peter Grendel kannte das Lied. Es zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er musste an seine kleine Tochter denken. Und jetzt wollte er sich nicht länger aufhalten lassen, sondern nur noch nach Hause.
Manchmal hatte Rupert das Gefühl, die ganze Welt habe sich zu einem einzigen riesigen Komplott gegen ihn zusammengetan. Dies war wieder so ein Tag.
Wenn die da drinnen im Schutz der Musik die Sängerin umbringen, stehen wir hinterher als Deppen da, weil wir vor der Tür gewartet haben, statt einzugreifen. Wenn wir aber ins Gebäude eindringen und die trinken da drin nur fröhlich Sekt, stehen wir genauso dämlich da.
Vielleicht war es deshalb gut, Vorgesetzte zu haben und solche Entscheidungen nicht selbst fällen zu müssen.
Er versuchte, Ubbo Heide zu erreichen.
Weller und Ann Kathrin waren unterwegs nach Münster, um dort den Angehörigen von Christina Diebold die Botschaft zu überbringen. Sie hatten beide nicht die Hoffnung, im Umfeld der Familie einen Hinweis auf den Mörder zu finden. Insofern
unterschied sich dieser Fall von fast allen anderen Morden der letzten Jahre. Rein statistisch fand man den Täter meist unter den Verwandten oder im engeren Freundeskreis. Trotzdem fuhren sie hin. Jemand musste die Nachricht überbringen, und Ann Kathrin wollte gern das Umfeld kennenlernen, aus dem das Opfer stammte.
Ann Kathrin lenkte den Dienstwagen, Weller saß in sich gekehrt, von Selbstvorwürfen zerfressen, neben ihr. Ann Kathrin fand ihn im Moment nicht ganz verkehrstüchtig. Im Prinzip, dachte sie, ist Arbeit jetzt genau das Richtige. Arbeit lenkt ihn ab. Nichts ist wichtiger nach solch einer schrecklichen Niederlage
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