Ostfriesengrab
ausgestrecktem Arm gegen die Wand. »Was soll das? Ist das jetzt so eine Art Hausdurchsuchung?«
Je mehr er sich weigerte, sie das Atelier oben sehen zu lassen, umso größer wurde in ihr die Gewissheit, dass er dort an einem großen Aktporträt von ihr malte.
Ohne sich von ihm aufhalten zu lassen, stapfte sie die Treppe hoch. Doch was sie oben fand, war sehr ernüchternd. Eine große, aber völlig unbefleckte Leinwand wartete auf den ersten Pinselstrich des Meisters. Auf dem Boden standen Pulver, Flüssigkeiten, Farbeimer. Alles sah ganz anders aus, nicht so, wie sie diesen Raum beim letzten Mal erlebt hatte.
Jetzt erst kam er hinter ihr nach oben. »Na, zufrieden?«
»Was machst du hier?«
»Ich mische meine Farben selbst. So wie die großen alten Meister.«
In dem Moment wusste sie, was der Friseur mit dem Blut anstellte. Es durchfuhr sie wie ein Blitz. Natürlich! Er malt sie und mischt mit dem Blut Farben.
Sie fuhr herum und starrte Heiner Zimmermann an. »Ich muss gehen«, sagte sie.
Erneut stellte er sich ihr in den Weg. Diesmal, um sie daran zu hindern, nach unten zu laufen.
»Hast du dich vergewissert, dass ich nicht gelogen habe? Und glaub mir, wenn ich es wollte, ich habe alles hier.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn und fragte sich, wann das Liquid Ecstasy, das er in ihr Wasserglas gekippt hatte, endlich bei ihr wirken würde.
»Ich kann alles, was ich jemals gesehen habe, malen. Ich habe ein fotografisches, mehrdimensionales Gedächtnis. Und mehr als das, ich erinnere mich nicht einfach, o nein. Ich kann die Formen verändern wie ich will. Ich könnte Frank und dich malen, wie er dich auf Arten nimmt, von denen du bisher nicht mal gewagt hast zu träumen.«
Sie war empört, verzog angewidert die Mundwinkel. »Warum sagst du so etwas? Was soll das?«
»Ich kann dich nicht gehen lassen, Ann Kathrin«, sagte er, und es klang fast, als würde es ihm leidtun. »Du weißt, dass ich es bin, stimmt’s? Du hast lange gebraucht. Wissen deine Kollegen schon Bescheid? Werden sie gleich kommen? Stürmen sie erneut mein Haus? Ich hoffe, sie lassen mich mein Werk noch vollenden. Du hast dir deinen Platz darin selbst ausgesucht.«
Ihr wurde schwindlig. Ihre Glieder wurden zunehmend schwerer. In ihrem Kopf trudelte alles, und sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich seine Stimme hörte oder ob die Phantasie ihr einen Streich spielte.
Sie stammelte: »Ich … ich denk, du bist ein Freund von Frank … «
Heiner Zimmermann lachte. »O ja, das bin ich. Er wird das Bild von dir bekommen. Es wird Millionen wert sein. Und zum berühmtesten Zyklus der Welt gehören. Am Anfang wird er vielleicht noch ein bisschen traurig sein, aber dann wird er den Verlust verschmerzen. Er wird für viele Frauen ein interessanter Mann werden. Für Museumsdirektorinnen, Galeristinnen, Kunstprofessorinnen und Universitätsdirektorinnen. Er, der Freund von Heiner Zimmermann, der Liebhaber des Brennenden Engels. Der Kommissar, der die ganze Zeit so nah an der Lösung des Falles war, dass er sie nicht sehen konnte.«
Ann Kathrin schwankte. »Was hast du mir in dieses Scheißglas gemischt?«, schrie sie und schleuderte es in Heiner Zimmermanns Richtung. Sie hörte, dass es klirrte und irgendwo zerschellte, aber sie konnte den Blick nicht auf die Stelle fokussieren, die sie getroffen hatte.
»Liquid Ecstasy. Sag bloß, ihr habt es in Christina Diebolds Körper noch nicht nachgewiesen? Angeblich soll das Zeug ja nach vierundzwanzig Stunden im Blut verschwunden sein. Ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt. Man kann in solchen Sachen ja schlecht einen Fortbildungskurs an der Volkshochschule belegen.«
Am Computer sah Weller sich die Homepage von Professor Diebold an. Es gab mehrere hundert Seiten. Bilder von ihm, Presseartikel über ihn, Zitate, was andere Menschen über ihn gesagt hatten, eigene Arbeiten zur Kunsttheorie, endlose Artikel über Beuys und immer wieder Bilder von ihm mit lachenden jungen Studentinnen. Offensichtlich hatte er sich die Förderung des Nachwuchses auf die Fahnen geschrieben. Immer wieder eröffnete er Ausstellungen, wobei es Weller auffiel, dass die Studentinnen oft schöner waren als ihre Werke. Nicht mal zehn Prozent der von Professor Diebold Geförderten waren Männer, und Weller vermisste unter den Frauen wenigstens eine picklige, pummelige, hochbegabte junge Malerin. Waren sie alle langhaarig, trugen Größe 36 , höchstens 38 , bei erstaunlich großer Oberweite?
Vielleicht, dachte
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