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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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hinter sich, aber was er für ein Treppenknarren gehalten hatte, war nur das Krachen der langen Holzbalken an der Decke gewesen. Dies Haus machte nachts immer Geräusche, als hätte es seine richtige Form noch nicht gefunden.
    Noch einmal ging er in ihren musealen Raum zurück, um nachzusehen, ob er darin auch das Licht ausgeknipst hatte. Er sah Ann Kathrins Vater mit der Waffe am Kopf. Du warst bestimmt ein guter Polizist, dachte Weller, und du wärst stolz auf deine Tochter, wenn du sie heute sehen könntest.
    Weller legte sich ins Bett, aber nachdem er sich eine Weile hin und her gewälzt hatte, stand er wieder auf und ging zu Ann Kathrins Buchregal. Er wollte etwas lesen, um sich abzulenken.
    Im Wohnzimmer hatte sie seiner Schätzung nach mindestens tausend Kinderbücher. Weller hatte jetzt keine Lust auf Astrid Lindgren, Cornelia Funke oder Paul Maar. Er glitt mit dem Finger an mindestens drei Meter Bilderbüchern über Hexen, Gespenster und Piraten vorbei. Er suchte einen Krimi oder einen Thriller, um sich abzulenken. Aber dann fand er sich auf dem Wohnzimmerteppich sitzend wieder, mit einem Stapel Bilderbücher, versunken in die Welt von Ann Kathrin Klaasen. Er kannte außer ihr keinen anderen Erwachsenen, der Kinderbücher sammelte. Doch nachdem er zu blättern begonnen hatte, versank er schnell in einer magischen Kinderwelt, in der Elfen und Feen mit bösen Zauberern um die Macht rangen.
    Es war halb vier, als sie nach Hause kam. Sie sah überhaupt nicht geschafft aus, sondern auf eine verstörende Art energiegeladen. Sie lehnte sich gegen das Buchregal und lächelte ihn an: »Du liest in meinen Büchern?«
    »Und du – kommst aus der Disco oder was?«, fragte er scherzhaft zurück.
    »Ich war am Tatort.«
    Weller fragte sich, wie sie so sauber geworden war. Immerhin
hatte sie nackt auf dem Boden gelegen. Er stellte sich vor, dass sie in den künstlich angelegten Grachten des Schlossparks gebadet hatte. Oder aber in der Nordsee. Ihr war alles zuzutrauen.
    Er kniete sich hin und räumte die Bücher ins Regal zurück.
Anna im Land Verkehrtherum
fiel wieder heraus. Ann Kathrin bückte sich zu ihm, hob das Bilderbuch liebevoll auf und sagte: »Anna fällt überall aus dem Rahmen. Sie passt wirklich nirgendwo rein.«
    Dann hielt sie das Buch unterm Arm, als müsse sie es beschützen.
    »Der Fundort ist nicht der Tatort«, sagte sie. »Er hat sie irgendwo hergerichtet und dann nach Lütetsburg gebracht.«
    »Normalerweise versuchen Mörder, ihr Opfer irgendwo schnell loszuwerden. Ein Fluss, eine Müllhalde, ein einsamer Waldweg. Der hier nicht. Der Tatort ist eine einzige Inszenierung. Abel von der Spurensicherung glaubt an ein Ritual.«
    Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Falsch. Was wir gesehen haben, ist nicht das Ergebnis von einem Ritual.«
    »Was denn dann?«
    »Wir sehen nur, was wir sehen sollen. Er gibt sich unheimliche Mühe, dass alles in seinem Sinne perfekt ist, wenn wir an den Tatort kommen. Denk nur an ihre Kleider. Sie lagen nicht irgendwo verstreut herum. Sie waren wie ein Weihnachtsgeschenk verpackt.«
    Sie ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und trank es in einem Zug leer. Dann sagte sie: »Er muss etwas von Leichen verstehen.«
    »Von Leichen? Wie kommst du denn darauf?«
    »Er musste damit rechnen, dass die Leichenstarre eintritt. So weihnachtsengelhaft, wie wir sie gefunden haben, passte sie ja wohl kaum in seinen Kofferraum. Er muss sie sich an Ort und Stelle zurechtgebogen haben.«
    »Vielleicht hat er ihr irgendein Zeug injiziert, das die Leichenstarre
hinauszögert und die Muskeln wieder geschmeidig macht.«
    »Ja. Ich fürchte, genau das hat er getan. Ihre Finger und Fußnägel waren in der gleichen Farbe lackiert wie die Blütenblätter, zwischen denen wir sie fanden. Weißt du, was das bedeutet?«
    Weller konnte es sich denken, sagte aber nichts. Er sah sie nur an.
    Sie kratzte sich am Knie und fuhr fort. »Er hat sich den Tatort vorher ganz genau angesehen. So perfektionistisch wie er ist, hat er vermutlich sogar Blütenblätter mitgenommen, um die genaue Farbe bestimmen zu können.«
    »Du meinst, bevor er die Tote nach Lütetsburg gebracht hat, hat er ihre Nägel lackiert?«
    »Ja. Oder er hat sie gezwungen, es selbst zu tun.«
    Weller fürchtete sich fast ein bisschen vor ihr, wenn sie so sprach. Ihr Blick ging ins Leere, als würde sie durch die Wand hindurch in irgendeine tiefe, andere Welt schauen.
    »Ich glaube nicht«, sagte Ann Kathrin emotionslos, »dass er der

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