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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Aber versuch mal, deinem Herzen zu sagen, es solle aufhören zu schlagen. Das wird nicht funktionieren. Genauso wie der Magen. Siehst du, das hier soll doch der Magen sein, oder?«
    Jule nickte heftig.
    »Der Magen ist oft viel intelligenter als unser Kopf. Es ist eine gewaltige chemische Fabrik, die ohne jeden Direktor funktioniert. Aus jedem Mist, den du isst, macht dein Magen gute Lebensenergie für dich.«
    Die Mädchen strahlten ihn geradezu verliebt an, nannten ihn Onkel Zimmermann, und er war so etwas wie ein Held für sie. Er interpretierte Dinge in ihre Bilder hinein, die sie selbst weder beabsichtigt noch gesehen hatten. Er machte sie stolz. Sie konnten sich wichtig fühlen. Ann Kathrin verstand genau, wie er es machte, und fand ihn unheimlich clever. Sie versuchte voller Neid und Missgunst, von ihm zu lernen. Aber dann merkte sie, dass das gar nicht so einfach war. Der verstellte sich nicht. Der war so. Der konnte in jedem welken Blatt ein Universum entdecken und in einem Bleistiftstrich ein beginnendes Kunstwerk.
    Selbst für ihr misslungenes Porträt von Weller fand er liebe Worte. Sie habe ihn halt so gezeichnet, wie sie ihn sehe, und im Grunde sei er doch auch genau so. Sie kenne eben auch seine finstere Seite, und die käme in diesem Bild wundervoll zum Ausdruck. Ann Kathrin wollte sich dagegen wehren. Weller stand mit kritischem Blick dabei, doch Zimmermann bog alles in eine gute Richtung. Schließlich zeige das Bild, dass sie auch den düsteren, dunklen Weller liebe. Es sei eine Botschaft an ihn. Er müsse sich vor ihr nicht verstellen, sondern dürfe sein, wie er wolle.
    Zimmermann sprach voller Überzeugung und es gelang ihm, aus dem Bild eine Art Liebeserklärung von Ann Kathrin an Weller zu machen.
    Schließlich küssten die beiden sich sogar und fühlten sich zum ersten Mal, seitdem die Kinder in ihrem Haus waren, wieder wie ein Liebespaar. Die beiden Mädchen machten keinen Versuch sie auseinanderzubringen.
    Aufgeputscht, ja fröhlich wie eine Familie, die sich wirklich mag, gingen sie danach bei Minna am Markt essen. Weller bestellte sich die Matjes Hausfrauenart mit Bratkartoffeln, seine Töchter wollten plötzlich das, was Papa isst, und auch Ann Kathrin machte es Spaß, das Gleiche zu essen wie alle anderen. Weller trank dazu ein gezapftes Bier, Ann Kathrin ein Glas trockenen Rotwein und die Kinder bekamen ihre Cola, obwohl es dafür eigentlich schon zu spät war, wie Weller betonte, und gleichzeitig machte er eine Geste, die zeigte, wie gleichgültig ihm das war.
    »Vielleicht«, orakelte Weller, »sollten wir einen richtigen Malkurs bei Heiner machen. Alle zusammen. An den Wochenenden gibt er manchmal solche Kurse auf den Inseln.«
    Beide Mädchen quietschten vor Freude und zwinkerten sich gegenseitig zu.
    »Dann«, sagte Ann Kathrin, »versuche ich es auch mal wie ihr. Einfach so mit den Fingern auf der Leinwand.«
     
    Ann Kathrin wusste nicht, wie sie es Weller sagen sollte. Eins seiner Kinder hatte das Foto ihres Vaters beschmiert.
    In dem Zimmer, das früher von ihrem Exmann Hero als »Therapieraum« bezeichnet worden war, war nichts mehr von Hero zu spüren. Weller nannte es den »heiligen Raum«, und er sagte diese Worte ohne jede Ironie, sondern voller Respekt. Er wusste, wie wichtig Ann Kathrin jedes noch so winzige Stückchen Papier darin war. Hier sammelte sie alles über den Mord an ihrem Vater. Hier hatte sie den Banküberfall, bei dem er ums Leben gekommen war, minutiös aufgezeichnet und die einzelnen Phasen an die Wand geheftet.
    Nichts anderes gab es hier. Fotos von ihrem Vater und vom Tatverlauf. Kopien von Akten. Sie musste diesen Fall lösen, vorher würde sie nicht sterben, hatte sie Weller gegenüber behauptet. Sie konnte nicht ertragen, dass der Mörder ihres Vaters mit der Beute frei herumlief.
    Sie hatte alles über jeden Banküberfall in Europa gesammelt, vom Todestag ihres Vaters an bis heute. Und inzwischen war sie dabei, sich auch die Fälle von fünf Jahren vor dem Banküberfall anzusehen. Es waren Profis. Es musste Parallelen geben.
    Manchmal dachte Weller, sie wird diesen Fall nie lösen. Sie braucht dieses Zimmer nur, um ihrer Trauer nachzuspüren, um sich an ihren Vater zu erinnern und um die Wut auf die Täter lebendig zu halten. Daraus nahm sie eine wesentliche Antriebskraft für den Alltag als Hauptkommissarin bei der Kripo in Aurich.
    Die meisten Frauen machten diesen Job bei der Mordkommission nicht lange. Sie war nicht nur für Mord zuständig,

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