Ostfriesengrab
Idiotin so etwas fragen.
Da die drei jetzt alleine im Flur standen, während Weller mit seiner Exfrau draußen im Regen versuchte, den Kofferraum aufzuhebeln – er hatte damit schon in die Werkstatt fahren wollen, als sie noch zusammen waren –, geriet Ann Kathrin unter stressigen Erklärungsdruck, so als müssten erst ein paar Grundregeln besprochen werden.
»Also, ganz klar, ich weiß, ich bin nicht eure Mutter, und keine Angst, ich werde mich auch nicht als solche aufspielen. Also, wir können ja versuchen, gut miteinander auszukommen. Wer weiß, vielleicht werden wir Freundinnen … «
Die Mädchen lächelten bemüht und sagten: »Jaja, bestimmt.«
Was rede ich nur für einen Müll, dachte Ann Kathrin. Sie hassen mich jetzt schon. Mein Gott, warum muss immer alles so kompliziert sein?
Sie hatten beide die Augen ihres Vaters und sahen ihm viel ähnlicher als ihrer Mutter, fand Ann Kathrin. Auch diese Spur von Überheblichkeit, wenn sie lächelten, so als seien sie sich bewusst, etwas Besseres zu sein, kannte sie von ihm. Manchmal ging er durch die Polizeiinspektion wie jemand, der tief in sich drin weiß, dass er eigentlich nicht dorthin gehört und nur darauf wartet, dass er endlich zu etwas Höherem berufen wird.
Bei ihm war es ein leicht aristokratischer Zug. Bei den Mädchen wirkte es eher zickig auf Ann Kathrin. Trotzdem erkannte sie ihn darin wieder.
Mit dem geschulten kriminalistischen Blick der Kommissarin stellte Ann Kathrin fest, dass es Renate Weller sehr darauf ankam, jünger auszusehen als sie war. Während sie versuchte, schön, jung und sexy auszusehen, bemühte sie sich, ihre Kinder so weit wie möglich vom Frausein wegzuhalten. Die pubertierenden Mädchen sahen eher aus wie Grundschülerinnen. Sie waren ungeschminkt und hatten bubenhafte Kurzhaarfrisuren. Ihre viel zu weite, schlabbrige Kleidung diente dazu, jedes Beginnen einer aufblühenden Weiblichkeit zu vertuschen.
Sie setzt sich zu den Mädchen in Konkurrenz, dachte Ann Kathrin. Sie will die kürzeren Röcke anziehen, die schärferen Klamotten tragen und die Blicke der tollen Typen auf sich ziehen. Sie wird in eine schwere Krise kommen, wenn ihre Töchter so weit sind, dass die Männer sich nach ihnen umdrehen und nicht mehr nach ihr, wenn sie gemeinsam über die Straße gehen. Und das wird gar nicht mehr lange dauern.
Irgendwie gönnte Ann Kathrin es ihr.
Dieter Meuling wurde erst am anderen Morgen wach. Das Sprechen fiel ihm schwer, aber er beschuldigte sofort den Vater und den Freund von Mareike Henning, ihn überfallen zu haben. Angeblich hatte er, bevor er ohnmächtig wurde, die Worte gehört:
»Das ist für Mareike.«
Er verschwieg, wie sie ihn in die Falle gelockt hatten.
Dann erst sah er sein Gesicht im Spiegel an. Er hatte Mühe, sich selbst zu erkennen. Tränen schossen aus seinen zugequollenen Augen. Sein Kiefer hatte sich merkwürdig verschoben, sein Gesicht war eingerahmt von Stangen. Er hatte Schrauben im Kiefer. Sein Schädel war kahl rasiert. Er sah aus, als hätte der Mörder von Mareike Henning seine Vorliebe für Stahlspeere und -stangen an seinem Kopf ausprobiert.
Weller hatte Brötchen geholt. Dinkelbrötchen, Vollkornbrötchen, Buttercroissants. Außerdem drei Sorten Marmelade und Nutella.
Ann Kathrin hatte Eier gekocht, aber die Mädchen verzogen nur angewidert die Mundwinkel, als sie die Eier geköpft hatten. Jule sah aus, als ob sie sich gleich übergeben müsste, und würgte: »Ih, die sind ja noch ganz glibberig. So was esse ich aber nicht. Da kann man ja die Salmonellen noch drin rumschwimmen sehen.«
Das Telefon klingelte. Der Kollege aus Duisburg war dran. Er war ziemlich ungehalten. Er wollte sich über Ann Kathrin und Weller »bei höherer Stelle beschweren, falls der Drogendeal jetzt platzt«.
Er sagte
höhere Stelle
so merkwürdig, dass Ann Kathrin sich fragte, ob er damit den lieben Gott im Himmel meinte. Sie hakte nach, aber er blieb nebulös. Ann Kathrin betonte, dass sie Meuling sicherlich nicht zusammengeschlagen habe. Und die Sippenhaft für alle Ostfriesen sei inzwischen auch abgeschafft.
Ann Kathrin schlug Weller vor, bei seinen Kindern zu bleiben.
Sie könne das auch allein mit Rupert regeln. Aber Weller machte die Sache größer als sie Ann Kathrins Meinung nach war. Auf keinen Fall wollte er sie mit diesen gefährlichen Schlägern alleine lassen.
Sie wusste nicht, ob er das wirklich für sie sagte, oder ob es mehr dazu bestimmt war, Eindruck bei seinen Töchtern zu
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