Ostfriesengrab
zwischen den beiden hin und her. »Häh? Ist was? Stimmt was nicht mit mir?« Er griff sich an den Hosenschlitz. Der Reißverschluss war oben.
Ann Kathrin Klaasen saß auf ihrem Lieblingsplatz in der Backstube in Norden, mit dem Rücken zur Wand. Von hier aus konnte sie die Kneipe gut überblicken. Aber sie sah nur auf ihre Altbierbowle. Sie fischte eine Erdbeere heraus und drückte sie mit der Zunge gegen ihren Gaumen.
Sie fühlte sich leer, und der Drang, sich volllaufen zu lassen, wurde größer in ihr.
Sie hatte ihr Fahrrad dabei, aber nicht weit von hier, am Markt, standen Taxen. Außerdem konnte sie von hier aus in zehn Minuten zu Fuß in den Distelkamp laufen. Sie hatte so viele Möglichkeiten und jede wirkte auf sie wie eine Bedrohung. Ihr fiel sogar die Entscheidung schwer, ob sie ein weiteres Glas Altbierbowle bestellen sollte oder nicht.
Die anderen Gäste beachtete sie nicht. Sie wollte nicht angesprochen werden. Fast ärgerte sie sich, hierher gekommen zu sein. Die Atmosphäre hier hellte ihre Stimmung nicht so auf wie sonst. Selbst das Gelächter der jungen Leute in der Wilhelm-Busch-Stube nervte sie.
Dann saß plötzlich jemand neben ihr. Sie nahm ihn zuerst nur wie eine Störung wahr. Besaß ein Mann die Unverschämtheit, sich zu ihr zu setzen und sie anzuquatschen? Es gab noch genug freie Plätze hier.
Sie sah ihn zunächst verschwommen. Nur langsam wurde das Bild schärfer. Sie fragte sich, ob sie schon so viel getrunken hatte oder warum sonst ihr Kreislauf verrückt spielte.
Heiner Zimmermann strich sich die langen silbergrauen Haare aus dem Gesicht. Seine Finger waren lang und feingliedrig, sie rochen nach frischem Qualm, obwohl hier drin nicht geraucht
werden durfte, und zwischen Zeige- und Mittelfinger hatte er einen dicken, gelblich-braunen Nikotinfleck.
Er hatte eine warme, freundliche Stimme und fragte nach seinem alten Schulfreund Frank Weller.
»Der hat Dienst«, gab Ann Kathrin kurz und vielleicht ein wenig schroff zurück. Es tat ihr leid. Sie wollte ihn nicht beleidigen. Aber sie hatte überhaupt keine Lust, sich zu unterhalten.
Warum bin ich nicht einfach zu Hause geblieben, dachte sie. Und gleichzeitig wusste sie, dass sie es jetzt im Distelkamp nicht aushalten würde. O ja, wie oft hatte sie sich ruhige, freie Tage gewünscht. Doch jetzt, vom Dienst freigestellt, begann sie etwas zu entwickeln, das sie selbst
Hausfrauensyndrom
nannte. Dies Gefühl, in dem großen Haus würden die Zimmer immer kleiner, die Decke immer niedriger und die Luft immer stickiger werden.
»Ich hoffe, ihr seid noch zusammen«, scherzte Heiner Zimmermann.
»Ja, das sind wir«, gab Ann Kathrin zurück. »Mach dir keine Hoffnungen. Ich bin vergeben.«
Er lachte. »Oh, ich hoffe, du hast mich nicht falsch verstanden, Ann Kathrin. Ich wollte dir keineswegs zu nahe treten. Frank würde es mir nie verzeihen, wenn ich dich verletzt hätte … «
Ann Kathrin winkte ab, trank den Rest der Altbierbowle mit einem Zug und bestellte sich mit einem Fingerwink noch ein Glas.
»Frank wird vierzig«, sagte Heiner Zimmermann. »Hast du schon ein Geschenk für ihn?«
»Was ist das denn für eine komische Frage? Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?«
Gleichzeitig wurde Ann Kathrin bewusst, dass sie nicht mal genau wusste, wann Weller Geburtstag hatte. Sie befanden sich nicht gerade in der Situation, eine große Party zu geben. Wen sollten sie einladen? Ihren Exmann? Seine Exfrau? Seine
Kinder? Ihre Arbeitskollegen? In der derzeitigen angespannten beruflichen Lage wohl kaum.
Dann kam sie sich ignorant vor. Er hatte seine Freunde lange vernachlässigt. Früher war er regelmäßig zum Skatspielen gegangen.
»Ich wüsste ein Geschenk für ihn.«
»Na, da hilfst du mir aber aus der Patsche. Was wünscht er sich denn?«
Die Altbierbowle kam, und Zimmermann fragte Ann Kathrin, ob sie Lust hätte, einen Schnaps mitzutrinken. Sie war dabei, und er orderte zwei »Alte Schweden«. Sie sah ihn fragend an.
»Das ist ein echter Magenbitter«, erklärte er. »Aus Ostfrieslands ältester Destillerie.«
Ann Kathrin wusste nicht, warum sie den Schnaps mit Heiner Zimmermann trank. Irgendwie war ihr der Mann plötzlich sympathisch und als Gesprächspartner gerade recht. Sie wunderte sich über ihre Stimmungsschwankungen. Aber ohne ihn hätte sie vielleicht wirklich Wellers Geburtstag vergessen.
Heiner Zimmermann sagte es frei heraus: »Er wünscht sich ein Bild von dir. Ein Ölbild. Von mir gemalt. Würdest du mir
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