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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Leinwand steigen.
    Ann Kathrin wurde bewusst, dass sie zu viel getrunken hatte. Hinter ihr löste Heiner Zimmermann mit einem Plopp einen Korken aus einer Bordeauxflasche. Er goss den dunkelroten Wein in zwei übergroße bauchige Gläser.
    Ann Kathrin schüttelte den Kopf: »Nein, ich glaube, ich habe sowieso schon zu viel getrunken. Ich brauche erst mal ein Mineralwasser.«
    Er drehte den Wasserhahn auf und hielt einen Finger in den Strahl. Erst als das Wasser eiskalt aus der Leitung floss, hielt er eine Kristallkaraffe darunter.
    Ich werde mich auf keinen Fall von ihm abfüllen lassen, schwor sie sich. Irgendwie hat er ja all diese Frauen dazu gekriegt, ihm nackt Modell zu sitzen.
    Um Ann Kathrin herum gab es jetzt mehr nackte Frauen als im Ocean Wave am Frauensaunatag.
    Er goss ihr mit eleganter Geste das Wasser aus der Karaffe in ein Weinglas.
    Zu jedem Bild hatte er eine Geschichte parat und erzählte sie bereitwillig. Er unterstrich seine Worte dabei mit kleinen
Gesten. Seine warme Stimme lullte Ann Kathrin ein. Er redete über diese Frauen, als sei er in jede einzelne verliebt gewesen. Aber nicht, wie ein Mann über seine Ex spricht, sondern so wie einer, der immer noch voll verknallt ist. Dabei beeindruckte er Ann Kathrin dadurch, mit welchem Respekt er von den Frauen erzählte, ja, mit welcher Hochachtung.
    »Sieh nur, das ist Gisela.« Mit seinen Händen strich er über ihr Gesicht, als müsse er ihr die Stirn kämmen. »Als ich das Bild gemalt habe, war sie einundfünfzig. Sie hat drei Kinder und zwei gescheiterte Ehen hinter sich. Und schau dir dieses hinreißende Lächeln an. In der Tiefe ihrer Seele ist sie ein Sonnenschein geblieben. Solche Menschen altern nicht. Sie hat sich ewig geziert und geschämt. Es hat fast drei Jahre gedauert, bis sie so viel Vertrauen zu mir hatte, dass sie sich … « Er wischte seine Worte lächelnd weg und schüttelte den Kopf über sich selbst. »Nein, vielleicht sollte ich besser sagen, bis sie so viel Vertrauen zu sich selbst hatte. Als sie aufhörte, sich abzulehnen und sich zu lieben begann, da konnte ich sie malen. Sie kann dieses Bild nicht mit zu sich nach Hause nehmen. Sie wohnt mit ihrer Mutter zusammen. Die alte Dame würde es nicht verstehen. Aber manchmal kommt sie hierher und schaut es sich an. Ich habe ihr versprochen, es nicht zu verkaufen. Es gehört ihr, und sie kann es sehen, so oft sie möchte. Ich wollte einen Rahmen für dieses Bild bauen, aber sie sagt, es gefällt ihr ohne Rahmen besser. Im Leben müsse sie sich ständig in einem Rahmen bewegen, der ihr viel zu eng sei. Wenigstens auf diesem Bild wollte sie frei sein. Und frei bleiben.«
    Ann Kathrin genierte sich deswegen, aber sie spürte, dass ihre Augen feucht wurden. Etwas an seinen Worten rührte sie sehr an. Oder war es nur der Alkohol? Sie nahm einen großen Schluck Leitungswasser. Dann wurde ihr plötzlich klar, dass sie diese Frau aus Norden kannte. Arbeitete die nicht im Combi an der Kasse?
    Langsam begriff sie, dass er sie nackt malen wollte. Er musste es nicht aussprechen. Es war auch so vollkommen klar.
    Zimmermann stellte das Bild vorsichtig wieder zurück und zeigte Ann Kathrin ein anderes. Vor einem dunkelblauen Hintergrund, wie ein Nachthimmel, kniete eine gut hundert bis hundertzwanzig Kilo schwere Frau und sah strahlend in die Ferne, als würde sie dort hinten etwas Beglückendes kommen sehen, etwas, das ihr Leben für immer verändern würde. Auch ihr Gesicht kam Ann Kathrin bekannt vor. Hatte sie nicht einmal in Gittis Imbiss gearbeitet? Ann Kathrin brachte sie mit dem Duft von Pommes frites und einem knusprigen halben Hähnchen in Verbindung.
    »Für mich ist sie eine Göttin«, sagte er. »Die Urfrau.«
    »Was sieht sie?«, fragte Ann Kathrin. »Was schaut sie an?«
    Er hielt das Glas an seine Nase und schnüffelte am Bordeaux. »Vielleicht den Messias … Sie weiß, wo das Glück wohnt. Sie hat es gesehen.«
    »Und wie bringst du all diese Frauen dazu … Ich meine, das sind nicht die typischen Fotomodelle.«
    »Nein, für die interessiere ich mich auch nicht. Ich male Frauen. Keine Barbiepuppen. Ich spreche sie einfach an. Ich rede mit ihnen.«
    »So, wie du mich in der Backstube angebaggert hast?«
    Es tat ihr sofort leid, angebaggert gesagt zu haben.
    Er tadelte sie mit einem Blick und einem Zungenschnalzen. »Ich habe dich nicht angebaggert. Das ist nicht meine Art. – Das ist Michaela. Bis wir das Bild gemalt haben, glaubte sie, dass man Glück essen kann. Jetzt weiß

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