Ostfriesengrab
geschehen, wollte Weller sagen, doch er wusste, dass dies nicht der Fall war. Die Situation war für alle so neu, dass sie sich restlos überfordert fühlten. Später, bei einer genauen Analyse des Ganzen, würde sicherlich jeder Einsatzleiter und jeder Polizeipsychologe sehr genau benennen können, was sie falsch gemacht hatten und warum. Doch jetzt war keine Zeit für langes Nachdenken und Analysieren. Sie mussten sofort entscheiden. Alles musste gleichzeitig geschehen. Und obwohl Weller viele Fortbildungen besucht hatte, war ihm noch nie so ein Fall zu Ohren gekommen.
»Alle Touristen sind auf der Insel«, sagte er ruhig, »und zunächst mal können sie von da auch nicht wieder weg. Wir lassen keine Fähre rein oder raus, bis die Leiche hier weg ist.«
»Und wie lange wird das dauern?«
»Ich hoffe, wir kriegen es in der nächsten Stunde hin, Ann. Wir haben es hier immerhin mit Ebbe und Flut zu tun.«
Ubbo Heide trat an Weller heran und schüttelte ihn. »Könnt ihr euer Liebesgeflüster nicht nach Feierabend machen? Wir müssen die Leiche hier wegbringen und ich will, dass der Staatsanwalt sich das vorher anguckt. Alles, was wir jetzt entscheiden, kann falsch sein. Ich will ihn mit in die Verantwortung nehmen und dann … «
Weller stieß Ubbo Heide zurück: »Sie hat wichtige Informationen für uns! Ich wäre froh, wenn sie jetzt bei uns sein könnte! Wir wissen doch gar nicht, was er jetzt als Nächstes vorhat. Vielleicht macht er einfach drei Wochen Urlaub auf der Insel. Vielleicht fährt er mit der nächsten Fähre zurück. Auf Norderney sind zurzeit ein paar tausend Touristen. Es ist Hochsaison. Wir … «
»Schluss jetzt!«, brüllte Ubbo Heide und zerrte an Wellers rostbrauner Sommerjacke. Wellers Handy fiel ins Watt. Weller bückte sich und griff danach. Er hörte noch Ann Kathrins Stimme, dann machte das Salzwasser aus seinem Handy einen wirtschaftlichen Totalschaden.
In dem Moment landete auf Ann Kathrins verwaistem Schreibtisch in der Polizeiinspektion Aurich der Obduktionsbericht von Verena Glück. Sie war erdrosselt worden. Es gab keine Spuren einer Vergewaltigung und auch keine anderen Hinweise auf Verletzungen an ihrem Körper. Aber ihr fehlten gut zwei Liter Blut. In der rechten Armbeuge wies sie Hämatome auf und Einstiche. Die Gerichtsmedizinerin vermutete, dass ihr das Blut kurz vor dem Tod abgezapft worden war.
Da Rupert viel Zeit zu Hause zwischen Bett und Toilette verbrachte, stellte er sein Fernsehgerät so auf, dass er bei geöffneter Klotür sowohl vom Schlafzimmer als auch vom Toilettensitz aus fernsehen konnte. In Ostfriesland prügelten sich inzwischen
die Kamerateams um die letzten Hotelzimmer und Ferienwohnungen. Jeder Sender hatte mindestens ein eigenes Team vor Ort und versuchte neue, sensationelle Meldungen zu erhaschen. Wobei die Reporter ein besonderes Geschick zeigten, Menschen zu interviewen, die nichts gesehen hatten, aber über den Fall spekulierten.
Grimmig fragte Rupert sich, ob es inzwischen außer ihm selbst überhaupt noch einen Ostfriesen gab, der nicht bereits im Fernsehen seine Meinung zum Besten gegeben hatte.
Sogar ein junger Polizeimeister, den Rupert noch nie im Leben gesehen hatte, erklärte stolz, er habe, als er von den Morden hörte, seinen Urlaub in Mallorca sofort unterbrochen und sei mit der nächsten Maschine zurückgeflogen, um seinen Kollegen zur Seite zu stehen.
Rupert brüllte den Fernsehapparat an: »Na danke!« Er mutmaßte, der Polizeimeister sei in Wirklichkeit ein unbezahlter Schauspieler.
Rupert ging in die Küche und ließ das Wasser so lange ins Waschbecken plätschern, bis er hoffte, alles Abgestandene aus der Leitung herausgespült zu haben. Dann hielt er seine Lippen in den Strahl und schluckte gierig. Dieser Magen-und-Darm-Virus begann ihn langsam auszutrocknen. Seine Lippen waren schon aufgesprungen, und seine Knochen fühlten sich an wie trockenes Brennholz.
Im ZDF war die Auricher Pressesprecherin der Polizeiinspektion, Rieke Gersema, zu sehen. Immerhin, die war echt! Aber Rupert hätte sie im ersten Moment fast nicht erkannt, wäre nicht unten ihr Name eingeblendet worden.
Rupert ging näher an das Fernsehgerät heran. Sie hatte sich geschminkt, als sei sie plötzlich farbenblind geworden. Verkam das Ganze jetzt zu einer Medienoperette? Da Deutschland gerade keinen neuen Superstar suchte, konzentrierte sich das Land jetzt auf die Suche nach einem Serienkiller? Auf RTL war
jemand der Meinung, schlauer zu sein als die
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