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Ostfriesengrab

Ostfriesengrab

Titel: Ostfriesengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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bestimmen. Die Blütenpracht war da, die Sonne ging mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks auf. Die Dünen auf Norderney, der Sand, die Sonne, all das war berechenbar. Aber nun hatte er es mit den Gezeiten zu tun. Er musste präzise sein. Er wollte sie verblüffen. Die Bilder sollten um die Welt gehen.
    Er steuerte das Boot durch die Fahrrinne von Norddeich-Mole in Richtung Norderney. Das Meer wirkte schwarz in dieser Nacht. Ein Abgrund, tiefer als seine eigene Seele. Hier, außerhalb der Fahrrinne, hätte er noch stehen können. Er wollte sie auf keinen Fall innerhalb der Fahrrinne versenken. Dann würde ihr schöner Körper irgendwann von Schiffsschrauben zerfetzt werden. Er fand den Gedanken schrecklich.
    Er machte das Boot an einer Pricke fest und erinnerte sich an den Wattführer Kurt Knittel. Bei einer Wattwanderung hatte der den Kindern erzählt: »Wisst ihr, warum die Ostfriesen hier im Meer Bäume gepflanzt haben? … Nun, die Ostfriesen sind sehr tierlieb, und ihr wisst ja, wo ein Hund gerne sein Beinchen hebt. An einem Baumstamm. Und da es hier viele Seehunde gibt … «
    Er musste grinsen. Damals, bei der Wattwanderung mit Kurt Knittel, war ihm die Idee gekommen, eine Meerjungfrau aus dem Wasser aufsteigen zu lassen. Morgen würde die erste Fähre nach Norderney noch bei Ebbe auslaufen. Sie würde sich in der Fahrrinne langsam Norderney nähern, und alle Touristen würden sie sehen: seine Meerjungfrau.
    Er hatte ihre langen, blonden Haare zu einem dicken Zopf gebunden und ihr eine goldene Krone aufgesetzt, filigran geschmiedet aus dem alten Schmuck seiner Mutter. Weil er befürchten musste, dass die Wellen die Krone von ihrem Kopf spülen würde, hatte er sie an Carolin Haases Stirn festgetackert. Sie war längst tot.
    Er verließ jetzt die Fahrrinne und ließ seine Meerjungfrau an der Stelle, die er sich vorher ausgeguckt hatte, langsam ins Wasser. Zum Schluss ließ er die Kette mit dem Anker los, die er an ihrem rechten Fuß befestigt hatte. Zum Glück war das Meer heute Nacht sehr ruhig. Er musste nicht befürchten, dass die Wellen sie von der Kette reißen würden. In seinem letzten Angsttraum hatte sie ihren Fuß verloren und war mit ihrer Krone im Haar nackt in Norddeich angespült worden.
    Er schüttelte sich bei diesem schrecklichen Gedanken. Dann fuhr er mit dem Boot zurück nach Norddeich-Mole. Er zog sich um und ging noch in die Backstube, um sich einen trockenen Rotwein zu genehmigen.
     
    Der Wetterbericht im NDR kündigte für Niedersachsen dichte Bewölkung an. Für Hannover und Oldenburg stimmte das auch, aber an der Küste lachte die ostfriesische Sonne über jeden Wetterbericht. Der Wind pustete die Inseln und einen mehrere Kilometer langen Küstenstreifen frei. Für die Urlauber, die sich durch den miesen Wetterbericht nicht hatten beirren lassen, zog ein zauberhafter Tag herauf.
    Die Wettervorhersage vom holländischen Seewetterbericht im Internet, nach dem sich nicht nur die ostfriesischen Bauern, sondern auch der Täter richtete, stimmte wie immer auffallend. Ohne diese konkreten Aussagen wären die Pläne des Friseurs gar nicht durchführbar gewesen.
    Die Touristen stürmten in der Frisia V sofort hoch aufs Sonnendeck und kämpften dort um die besten Plätze. Zum dritten
Mal kam die Durchsage, dass bitte keine Möwen gefüttert werden sollten, außerdem sei das Rauchen auf dem ganzen Schiff verboten.
    Es war Ebbe, und die Sonne ließ das Watt glitzern. Sie fuhren Norderney und der Sonne entgegen. Er war mitten unter ihnen. Er hatte zwei Digitalkameras dabei. Auf keinen Fall wollte er sich dieses Ereignis dadurch verderben lassen, dass sein Fotoapparat versagte. Er brauchte die Fotos nicht für sich, denn ein Bild, das er einmal gesehen hatte, prägte sich ihm für immer ein. In seiner inneren Datenbank waren Abermillionen Bilder bis ins kleinste Detail hinein gestochen scharf gespeichert. Aber es gefiel ihm, wenn die Presse mit seiner Vision arbeitete und nicht mit den stümperhaften Schnappschüssen der Hobbyknipser.
    Der kleine Kai hatte es geschafft, so lange herumzuquengeln, bis sein Vater ihm ein weißes Magnum kaufte, obwohl Kai das Frühstück verweigert hatte. Aber der Vater wollte sich die Urlaubslaune nicht vermiesen lassen. Kai drängelte sich backbord an die Reling und ahnte nicht, dass er neben einem sehr gefährlichen Mann stand, der auf keinen Fall diese Position räumen würde, denn er wusste, an welcher Seite die Meerjungfrau gleich auftauchen würde. Und von

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