OstfriesenKiller
nicht überprüft. Er behauptet, Ulf Speicher habe in die eigene Tasche gewirtschaftet und dabei vierzig Arbeitsplätze gefährdet.«
Der Staatsanwalt stöhnte. »Ja, davon haben Sie uns ja jetzt ausreichend unterrichtet. Ich fasse also zusammen: Wir haben nicht mal einen richtigen Verdächtigen. Der Fall bringt Sie und Ihre Kollegen offensichtlich an die Grenzen. Ich denke, wir sollten damit Spezialisten beauftragen.«
Dahin lief der Hase also. Man wollte ihr den Fall abnehmen.
»Unsere Ermittlungen haben doch gerade erst begonnen … Bitte, geben Sie mir mindestens noch 24 Stunden.«
»Wofür? Damit wir uns mit einer Hausdurchsuchung im Verein blamieren können? Wollen Sie sich vorwerfen lassen, wir hätten aus Opfern Täter gemacht?«
Die Tür ging auf, und obwohl es eine eiserne Regel war, Besprechungen dieser Art nicht zu stören, legte Rieke Gersema los, ohne erst auf eine Erlaubnis zu warten: »Ein paar Meter vom Freizeitheim Regenbogen ist Paul Winter gefunden worden. Ermordet. Mit einem Pfeil, wenn ich es richtig verstanden habe.«
Damit war die Sitzung beendet. Alle fuhren gemeinsam los. In embryonaler Haltung, verkrampft und mit morgentaunasser Kleidung lag Paul Winter im Gras. Er musste sich gut zehn Meter weit geschleppt haben, bis er hier gestorben war. Die Blutspur auf der Wiese zeugte davon.
Schüler hatten sein Fahrrad gefunden, das am Straßenrand lag, und kurz darauf die Leiche.
Nicht ohne Genugtuung registrierte Ann Kathrin, dass Staatsanwalt Scherer bei dem Anblick schlecht wurde.
Sie stand neben ihm und versuchte es noch einmal: »Ein historisches Gewehr. Ein Schwert. Ein Pfeil. Was kommt als Nächstes? Alle drei gehörten zum Regenbogen-Verein. Dort liegt der Schlüssel für all unsere Fragen.«
Der Staatsanwalt wandte sich ab und wollte zum Dienstfahrzeug zurückgehen, aber Ann Kathrin ließ nicht locker: »Kann ich mit Ihrer Unterstützung rechnen?«
Er nickte. »Meinetwegen. Tun Sie alles Erforderliche.«
Ann Kathrin sah sich das Fahrrad genau an. Paul Winter konnte noch nicht schnell gewesen sein, als der Pfeil ihn erwischte. Bestimmt war er am Freizeitheim gestartet, hatte aber schon in den vierten Gang geschaltet. Der Täter musste also in der Lage gewesen sein, nachts mit einem Pfeil auf ein bewegliches Ziel zu schießen.
Sie wies die Spurensicherung an, weiträumig weitere Pfeile zu suchen, obwohl sie sich sicher war, dass keine mehr gefunden werden würden. Es war genau wie bei Ulf Speicher. Ein Schuss, ein Treffer. Der Mörder wusste genau, was er tat, und beherrschte sein Handwerk.
Sie ging langsam den Weg ab, den Paul Winter gekrochen sein musste. Ob der Mörder so neben seinem Opfer hergegangen war und ihn bei seinem Todeskampf betrachtet hatte?
Die Wiese wies keine Fußspuren auf. Der Täter musste sich auf dem Asphalt bewegt haben. Wie lange mochte es gedauert haben, bis Paul Winter verblutet war? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Wer hasste Paul Winter so sehr? Legte der Täter Wert darauf, dass Winter wusste, wer sein Mörder war? Hatte er ihm ins Gesicht gesehen?
Sie bückte sich zu Paul Winter hinunter, als ob sie es in seinem Gesicht lesen könnte. Sie sah sich den Pfeil genau an. Da gefror etwas in ihr zu Eis, als würde eine stählerne Hand nach ihrem Herz fassen: Sie kannte die Federn. Genau so eine hatte sie heute Morgen gesehen. In ihrem Maulwurfshügel.
Augenblicklich war sie am Rand einer Panik. Der Mörder war ihr nah. Ganz nah.
Sie stellte sich vor, wie er mit seinem Köcher voller Pfeile hinter der Hecke gestanden und in ihren Garten geschaut hatte. Die Erinnerungen schossen Bild für Bild durch ihr Gehirn: Sie nackt im Garten. Irgendwo wurde ein Rollladen heruntergelassen. Oder wurde er heraufgezogen? War das ein identisches Geräusch? Wohnte der Täter etwa gegenüber und konnte auf ihr Grundstück schauen?
O nein, wahrscheinlich hatte dieser Rollladen ihr nur das Leben gerettet. Dieser Mörder machte keine Geräusche.
Sie erinnerte sich an dieses Gefühl, beobachtet zu werden, oder zumindest die Angst davor. Das hatte sie zusammen mit dem Rollladengeräusch ins Haus zurückgetrieben. Hatte er hinter der Hecke gelauert? Ihren nackten Körper betrachtet? Hatte er bereits mit seinem Pfeil auf sie gezielt? Sollte sie das vierte Opfer werden? Gehörte es zu seinem Muster, zwei Morde kurz hintereinander in einer Nacht zu begehen?
Noch immer kniete Ann Kathrin Klaasen vor der Leiche. Sie versuchte jetzt aufzustehen. Das Schwindelgefühl ließ sie
Weitere Kostenlose Bücher