Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
gebracht?«
»Eike«, sagte ihre Mutter und freute sich, den Namen ihres Enkels so klar formuliert zu haben. Dann ließ sie sich erschöpft ins Kissen fallen.
»Für Ihre Mutter«, sagte der Logopäde, »war das ein sehr harter Tag voller anstrengender Arbeit.«
»Ja«, sagte Ann Kathrin. »Sie muss sich jetzt ausruhen. Ganz klar. Aber ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen.«
»Tun Sie das. Es ist klug, dass Sie mit ihr gesungen haben. Das ist der beste Weg, die für die Sprache zuständigen Gehirnströme wieder zu aktivieren.«
Ann Kathrin genierte sich, in seiner Gegenwart zu singen, doch kaum hatte er das Zimmer verlassen, begann sie auf gestische Aufforderung ihrer Mutter hin, zu singen.
Ihr Gehirn war so leer, ihr fiel nichts mehr ein. Dann, wie aus dem Dunkel des Vergessens, war der Text von einem Weihnachtslied da, und sie summte mehr als sie sang:
»Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh.«
Schon in der zweiten Zeile summte ihre Mutter mit.
Ich sitze hier und singe Weihnachtslieder, dachte Ann Kathrin. Mitten im Hochsommer. Und plötzlich kam eine Leichtigkeit, die der Schwere des Tages keinen Raum mehr ließ. Dann wurde sie von ihrer Mutter übertönt.
»Schlaf in himmlischer Ruhuuh,
Schlaf in himmlischer Ruh.«
Im Innenhof der Polizeiinspektion Aurich stand ein zwölfköpfiges Team bereit, um nach Norddeich zu fahren, aber Ubbo Heide bremste alle aus und hielt sein Handy weit von sich gestreckt in Richtung Ludwig Schwindelhausen.
»Ich habe hier Frau Müller am Telefon. Sie will auf keinen Fall, dass einer von euch im Muschelweg auftaucht. Sie macht uns schwere Vorwürfe. Sie will ab jetzt alles tun, was der Entführer verlangt und auf keinen Fall mit der Polizei zusammenarbeiten. Wenn überhaupt, dann dürfe nur einer kommen. In Zivil.«
Ludwig Schwindelhausen nahm Ubbo Heide das Handy ab und hielt es in die Nähe seines Ohres, ohne es wirklich zu berühren, als hätte er Angst, seine Frisur könnte davon durcheinander gebracht werden.
Die Art, wie er jetzt dastand, hatte etwas Tuntenhaftes an sich, fand Weller.
Was er hörte, schien ihm nicht zu gefallen, obwohl er immer gockelhafter wurde, weil alle Blicke auf ihm lagen und niemand mehr etwas sagte.
»Okay«, gab er kleinlaut zu, »okay, warten Sie.«
Dann hielt er das Handy mit einer Hand zu und fragte: »Wer hat ihr ein Taschentuch gegeben? Sie kann sich nicht mehr an den Namen erinnern.«
Es lief Weller heiß und kalt den Rücken runter. Wurde er jetzt für alles verantwortlich gemacht? Trotzdem stand er zu seiner Handlung.
»Ich … ich habe ihr ein Taschentuch gegeben«, sagte er mit brüchiger Stimme.
Ein übergewichtiger BKAler, der sich die ganze Zeit die Hose am Gürtel mit beiden Händen festhielt und eine Brille trug, die Weller an Heinrich Himmler denken ließ, sah Weller an, als würde gleich ein Strafgericht über ihn hereinbrechen, und er sei der Racheengel persönlich. Er hieß Brocken und wurde hinter seinem Rücken von seinen Kollegen nicht ganz grundlos ›Kotz‹ genannt.
Ludwig Schwindelhausen zeigte auf Weller. Sein eisiger Blick ließ Weller über lange Unterhosen nachdenken.
»Sie will nur ihn in die Wohnung lassen und sonst niemanden.«
»Ja, ich … äh …«
Schwindelhausen hielt sich das Handy jetzt mit zehn Zentimeter Abstand vor die Lippen und sagte: »Der Mann kommt sofort. Er heißt …«
Er sah Weller auffordernd an.
»Frank Weller«, sagte Weller.
»Franz Wöllner.«
Weller widersprach nicht. Es wäre ihm jetzt kleinkariert vorgekommen, doch Ubbo Heide sagte laut und deutlich: »Das ist der Kollege Frank Weller.«
Ludwig Schwindelhausen schüttelte den Kopf, als sei das völlig unwichtig und lauschte.
»Er wird in ein paar Minuten bei Ihnen sein.«
Schwindelhausen verabschiedete sich mit ein paar freundlichen Worten, die verbindlich klingen sollten, aber da hatte Gundula Müller schon aufgelegt.
Schwindelhausen trat aus dem Kreis heraus und ging auf Weller zu. Er blieb knapp einen Meter vor ihm stehen, sah ihm streng in die Augen und dozierte mit dem Zeigefinder wie ein schlechter Pädagoge: »Ich werde Ihnen jetzt genau sagen, was Sie zu tun haben, Herr Wöllner.«
»Er kann nicht in ein paar Minuten in Norddeich sein. Das sind mehr als dreißig Kilometer.«
Schwindelhausen nahm das kaum zur Kenntnis.
»Wir können ja jetzt schlecht mit
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